Zigeunerstern: Roman (German Edition)
wagst, und dann geh noch weiter zurück! Geh bis an den Ursprung, Yakoub!
Geh bis an den Ursprung!
Riskiere alles, oder es ist alles verloren! Zurück! Zurück! An die Quelle, Yakoub, an den Ursprung!
Weiter! Noch weiter! Tief …
11
In ein Land, in dem die Nebel der Zeit so schwer und dicht sind, dass sie alles umhüllen, fest und dicht wie ein Grabtuch. Und in den Nebeln weitere Nebel, Klumpen von Weiß in Weiß. Wer könnte einen solchen Kokon um diese Welt gesponnen haben? Aber ja, die Zeit selbst, die Zeit tat es. Ich bin sehr weit zurückgewandert, viel weiter, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich bin weit über das Römische Weltreich zurückgegangen, über Ägypten, über Atlantis hinaus bin ich tief in die Vorzeit hinabgetaucht. Aber es ist auch nicht die Erde. Ich habe keine Vorstellung, wo ich bin, doch auf der Erde bin ich nicht: Es riecht hier nicht nach der Erde, das Gefühl ist nicht wie auf der Erde. Vielleicht bin ich weit über die Erde hinaus zurückgegangen. Vielleicht habe ich den Ursprung erreicht. Ist das möglich? Die Vorstellung macht mir Angst. Ich taste mich durch lichtlose weiße Regionen, verfange mich in weichen Dunststrähnen. Erstickend legen sich die Fäden mir über Augen und Nase und Mund. Ich sehe Dunst, atme Dunst, schlucke Dunst. Es gibt hier nichts als diesen Dunst.
Bin ich zum Anfang der Zeit vorgedrungen?
In der Trübheit, in dem lichtlosen Schein einer Sonne hinter Leichentüchern, glaube ich jetzt Schatten erkennen zu können, oder doch wenigstens die Schatten von Schatten. Vielleicht gibt es hier doch irgendeine körperliche Wesenheit, etwas, das man berühren kann, greifen. Eine Stadt? Der undeutliche Bogen dort, ist das eine Brücke? Und das da – ein Turm? Eine breite Straße, ein Boulevard? Sehe ich Bäume? Gestalten in Bewegung? Ja, ich glaube, meine Augen passen sich allmählich an. Man braucht eine Weile, bis man sich an diesen Nebeldunst gewöhnt. Oder vielleicht ist auch eine gewaltige Willensanspannung nötig, um hier überhaupt zu sehen. Nicht-Sehen ist einfach – das tun deine Augen ganz von selbst für dich. Du brauchst sie nur zu öffnen, und sie zeigen dir den Nebel. Mehr zeigen dir deine Augen nicht: nur Nebel. Aber mehr darin zu sehen, in diesem Nebel, das kostet Mühe. Da musst du schon mit ganzer Seele dahinterstehen. Es ist wie bei einem Spiel, bei dem deine Chancen dermaßen miserabel sind, dass ein kleiner Einsatz unsinnig wäre; entweder du setzt alles auf den nächsten Wurf, oder du gibst auf und gehst an einen anderen Spieltisch … Also, willst du sehen, was hier ist, Yakoub? Dann mach deinen Einsatz. Setz alles, was du hast! Und noch ein bisschen mehr! So ist es recht.
Ich glaube, der Dunst hellt sich etwas auf.
Ja. Ja, kein Zweifel, die Nebel lichten sich mehr und mehr.
Es steckt eine Chrysalis in diesem Kokon. Alles enthüllt sich mir, offenbart sich. Ja, hier ist wahrhaftig eine Stadt. Ich sehe Brücken, Türme, breite Straßen. Ich sehe Bäume. Ich sehe Gestalten. Ich sehe droben am Himmel eine Sonne.
Aber ich habe diesen Ort nie zuvor gesehen. Und doch, und doch, mir will scheinen, als kennte ich ihn wie die Finger meiner eigenen Hand. Der Dunst ist inzwischen völlig verschwunden, und ich sehe alles ganz klar, wenn auch mit einer seltsam traumartigen Intensität, wie durch ein Vergrößerungsglas. Was für ein seltsamer Ort! Ich habe so viele Welten besucht, dass ich sie gar nicht mehr alle zählen kann, Welten von derart beängstigender Fremdheit, dass der Verstand sie kaum zu erfassen vermochte; aber trotzdem, hier, hier spüre ich etwas, das ich niemals und nirgendwo sonst fühlte.
Ich ziehe langsam und behutsam durch diese fremden Straßen. Ein furchtsames Gespenst, das sich scheu nach allen Seiten umblickt. Es ist eine gewaltige Stadt. Sie erstreckt sich, so weit ich blicken kann, über Hügel und durch Täler, eine dichtbebaute, dichtbevölkerte Stadt, aber immer wieder aufgelockert durch Plätze, Parkanlagen, Wasserläufe, Promenaden. Die Einwohner haben dunkle ernste Augen, in denen ein mir unbekanntes Wissen funkelt. Die schwarzen Haare tragen sie zu raffinierten Zöpfen geflochten und verknotet. Als Kleidung haben sie schimmernde Perlenschnüre, die lose wie Kaskaden über ihre Leiber rieseln. Sie bekümmern sich nicht im geringsten um mich; vielleicht können sie mich nicht sehen, oder aber ich interessiere sie überhaupt nicht. Wo bin ich? Ich kenne diese Stadt, obwohl ich sie nie zuvor
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