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Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Titel: Zigeunerstern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sanften Hauch der Luft und verändern die Gestalt bei der leisesten Berührung. Von diesem Ort wird nichts bestehen bleiben, wenn die Zeit kommt, in der unsere Sonne schwanger wird. Ein dörrender Wind, ein Hitzeschwall, ein Flammenpilz – und dann, in wenigen Stunden, nichts als verbrannte Asche. Keine verkohlten Architekturreste, über denen künftige Archäologen rätseln könnten; keine Obeliskenstummel, keine Fundamente, keine Mauern, keine Mosaiken. Nichts. Aschenberge. Und sofort. Es ist jetzt, in diesem Augenblick, alles sehr schön; es wird alles auf sehr schöne Weise zugrundegehen: in einem Nu, in einem Augenblick – und ohne klägliche Relikte zu hinterlassen.
    Hunderte von Menschen strömen an mir vorbei und ziehen in ein größeres Gebäude direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich schließ mich ihnen an und trete, ohne dass mich jemand hinderte, ja bemerkte, mit den Menschen ein. Drinnen leuchtet ein grünes Licht, aber ich kann nicht erkennen, woher es kommt. Durch Gänge, die mit Webteppichen ausgelegt sind, gelange ich in Räume, die sich zu weiteren Räumen auftun, bis ich schließlich in einem Raum von gewaltigen Ausmaßen anlange, offensichtlich ein Kongresssaal, in dem sich die Bürger des Zigeunersterns zu Tausenden versammeln.
    Am anderen Ende des Raums befindet sich hoch über dem Boden eine Art hängende Matte, die gleichzeitig aber auch irgend etwas von einem Thron hat. Darin sitzt, ruht, liegt ein Mann, der seinem Aussehen nach sehr wohl mein Bruder sein könnte. Es ist etwas Königliches an ihm: das sehe ich sofort, aber ich hätte es auch bemerkt, wäre ich ihm nur einfach auf der Straße begegnet, anstatt in seiner thronenden Erhabenheit in einer großen Festhalle. Sein Haar ist in der altehrwürdigen Tradition geflochten, und er trägt ein Gewand aus Perlenschnüren. Aber sein Gesicht – das ist doch mein Gesicht! Seine Augen – das sind doch meine Augen! Er muss ein Bruder von mir sein. Nein, noch näher als dies: Er ist ich.
    Und er spricht zu seinem Volk. Kein Wort von dem, was er sagt, kann ich verstehen, und dennoch fühle ich, welche Sicherheit und Überzeugungskraft von ihm ausgehen, welche Stärke, welche Ruhe. Sein Ton ist ernst, und seine Zuhörer lauschen ihm mit ernsten Gesichtern. Er spricht sehr lang, aber jedermann wartet in völliger Unbeweglichkeit, bis er geendet hat. Dann treten sie stumm einer nach dem anderen vor ihn hin und legen ihre Hände in die seinen. Die Zeremonie dauert Stunden, die Prozession des Volks zu seinem Monarchen nimmt kein Ende. Mich berührt dies auf eine sehr tiefe Weise, bestürzend und stark, und es ist mir unmöglich, mich zu entfernen. Die Menschenreihen schieben sich nach vorn, und ich mit ihnen, bis mir auffällt, dass ich schon ganz vorn bin und im nächsten Moment an der Spitze der Prozession stehen werde. Aber jetzt kann ich nicht mehr zurück. Ich kann mich nicht drücken: alle sehen mich. Es wäre eine absolut unverzeihliche Beleidigung, würde ich jetzt den Segen dieses Mannes verächtlich ablehnen, was immer dieser Segen sein mag. Und so gehe ich also weiter, und ich strecke ihm meine Hände entgegen, und er berührt sie mit seinen Händen. Und das, obwohl ich ja hier nur als ein Spuk vorhanden bin, als ein Gespenst, ein Geist … er berührt meine Hände, genau wie er die seines Volkes berührte. Bei den anderen allen war diese Berührung nur eine flüchtige, momentane gewesen. Aber meine Hände hält er fest, mich hält er zurück. Ich spüre, wie seine erschreckende Lebenskraft in mich überströmt. Ich sehe den Schimmer in seinen Augen, der auf eine gewaltige Traurigkeit – und Weisheit der Seele schließen lässt. O ja, dieser hier ist ein wahrer König. Es werden in jeder Epoche nur wenige Könige geboren, und sie wissen von ihrer Geburt an, wer und was sie sind. Ich weiß das, denn ich bin einer von ihnen, auch wenn ich meinem Königtum nicht immer gerecht geworden bin. Und dieser Mann hier – der ist ebenfalls ein König. Wir sind aus demselben Geist, er und ich. Und ich liebe ihn, weil er so stark ist. Ich liebe ihn wegen seiner Traurigkeit. Ich liebe ihn, weil er weise ist. Ich liebe ihn, wie man einen König liebt. Wie einen Vater. Ich liebe ihn – wie mich selbst.
    Er hält meine Hände lange in den seinen fest. Mir erscheint es, als wären es Stunden.
    Er sagt kein einziges Wort, und dennoch habe ich das Gefühl, dass wir uns ausgiebig aussprechen. Zwischen ihm und mir, von ihm zu mir und von mir zu

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