Zigeunerstern: Roman (German Edition)
ihm, fließt vieles. Keiner hinter mir bewegt sich; wir könnten in diesem großen Saal ganz allein sein. Und in der zuckenden Elektrizität, diesen Funken, die von seinen Händen in die meinen und von den meinen in die seinen überfließen, sind alle Roma, die jemals lebten; wir bilden eine Brücke über unsere Rasse, vom Urbeginn bis zum Ende, dieser König da und ich. In ihm ruht ein wissendes Gefühl alles dessen, was unser Schicksal sein wird, und ich trage in mir das schwere gefühlsträchtige Wissen alles dessen, was uns zugestoßen ist … und wir tauschen dieses Wissen aus. Die gewesene Zeit, die noch nicht gewesene Zeit – beide weisen sie auf ein Ziel und Ende hin. Und dieses Endziel ist das Jetzt, die Gegenwart.
Der Mann macht mir seinen Mut zum Geschenk. Der bloße physische Tod ist nie das Ende, überhaupt nie ein Ende, von nichts ein Ende, sagt er. Er ist weiter nichts als eine Unterbrechung. Die Männer sterben, die Frauen sterben, Planeten sterben – doch bestimmte Dinge bestehen weiter, trotz ihres Sterbens. Wichtig ist das Weitergehen, und dafür gibt es die verschiedenartigsten Wege. Wir haben unsere sechzehn Schiffe in die Große Finsternis hinausgeschickt. Das ist unser Weg, Kontinuität zu erlangen.
Und ich, ich meinerseits übertrage ihm Hoffnung. Du hast das erreicht, was du zu erreichen angestrebt hast, sage ich zu ihm. Du hast uns die Weiterexistenz ermöglicht, und wir haben uns an deine Weisungen gehalten. So schau doch! Hier stehe ich, um dir zu beweisen, dass es uns noch immer gibt – am anderen Ende der Zeit. Und wir sind alle nur Glieder und Mitglieder der Gran Kumpania, wir alle, die wir Roma sind, Menschen also, dein Volk und das meine. Ein Blut fließt in uns allen, und es ist rot, wir sind eins. Eine Spezies. Eine große Gemeinschaft. Wir haben euch sozusagen fortgesetzt, euch weitergelebt. Wir sind sehr weit umhergezogen, wie es im Ratschluss der Götter für uns bestimmt war, aber wir haben nicht das Gefühl dafür verloren, wer und was wir sind. Und schau doch, hier bin ich, und ich gebe dir das feierliche Versprechen, dass wir Wanderer bald in die Heimat zurückkehren werden, hierher an diesen Ort, der von Anfang an unser war.
Ich bin du, sage ich wortlos zu ihm. Und du bist ich.
Ich bin du, sagt er zu mir, wortlos. Und du bist ich.
Dann gibt er meine Hände frei und gibt mich frei. Und als ich dann fortgehe, trage ich in mir wie einen Schatz das Bewusstsein dieser großen Menschheitskultur, der Roma, was da heißt »Menschen«, auf diesem Zigeunerstern, diesem Stern der Menschen: die Größe, die Tragödie, die Weisheit, ihre Poesie … In ihrer Größe liegt ihre Tragödie eingeschlossen, ihre Weisheit ist wie ein Gedicht. Diese hier sind Menschen, die auf ihren Tod warten … Und nun weiß ich auch, zu welchem Zeitpunkt ich hier eingetroffen bin. Die Omina sind gekommen, die Lotterie hat stattgefunden, die sechzehn Sternenschiffe wurden gebaut, und sie sind schon in die Große Finsternis davongeflogen … Die Menschen, die ich hier sehe, sind jene, die zurückbleiben. Sie werden sterben. Gewiss, jeder stirbt, wir alle müssen sterben, und für jeden einzelnen von uns bedeutet es das Ende der Welt. Aber für diese Millionen Menschen hier wird der Tod nicht individuell sein, sondern kollektiv, der Tod des einen ist der Tod aller. Und sie haben ihren Frieden geschlossen mit dem Sterben. Sie haben sich mit dem Ende der Welt, ihrer Welt, abgefunden.
Aber in ihrem Ende liegt ihr Anfang. Denn ich bin ausgesandt als Botschafter noch kommender Welten und als Zeuge dafür, dass sie fortbestehen sollen über alle Zeitumläufe hinweg. Ich bin gekommen, um ihnen zu sagen, dass der Kreis geschlossen sein wird, dass ein Ende nahe ist, bald, des Exils in der Fremde, dass ich bestimmt bin und auserkoren, unser Volk heimzuführen.
Und dann stehe ich wieder vor diesem eindrucksvollen Gebäude aus Schilfrohr und Binsen, dem Palast des letzten Königs auf dem Zigeunerstern.
Ich blickte starr zu der roten Sonne hinauf, die fast das gesamte Firmament ausfüllt, bis mir die Augen schmerzhaft zu toben beginnen.
Ach, da bist du, rote Sonne, du bist der Stern der Zigeuner … und ich, ich schaue dich an, solang ich kann! Ich zittere. O Tchalai, du Stern der Wunder! O Netchaphoro, du Leuchtende Lichterkrone, du Lichtbringer, du Gloriole um das Haupt Gottes … Und da schwebst du, vor meinen Augen in den Himmeln! Du Wunderstern, du Stern der Nacht. Und Stern des Tages ebenso … Du Stern
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