Zigeunerstern: Roman (German Edition)
gesehen habe. Diese Gebäude, die Straßen. Die Straßen verlaufen gerade, doch sie überkreuzen einander in sinnenverwirrenden Winkelgraden. Den Häusern haftet eine nicht geheure, fremdartige Schönheit an, die trotz allem vertraut auf mich wirkt. Es kann nicht mein erster Besuch an diesem Ort sein, an dem ich nie zuvor weilte. Doch was bedeutet das? Was will ich mir da selbst klarmachen? Worte, die zu sprechen mir nie in den Sinn gekommen wäre. Straßen, die ich niemals wiederzusehen hoffte, als ich meinen Leib an einem fernen Ufer zurückließ.
Die Sonne ist rot. Und sie füllt ein Viertel des Firmaments aus.
Doch obwohl diese Riesensonne über mir lodert, kann ich auch die Sterne sehen, Tausende, Millionen, ganze Felder von Licht in den Himmeln. Es lassen sich keine Konstellationen erkennen, keine Sternbilder – hier ist nur Helligkeit und Licht.
Aber die Monde! Jesu Cretchuno Sunto Mario, diese Monde!
Sie spannen sich wie ein Juwelengürtel über den ganzen weiten Himmelsbogen. Von einem Horizont zum anderen hängen sie da, erhaben aufgereiht, blitzend, feurig – sieben, acht, zehn funkelnde Monde, nein, elf – elf Monde, so hell wie Minisonnen. Und wenn sie am Tage schon so aussehen, wie müssen dann erst die Nächte hier sein?
Elf Monde. Rote Sonne. Die Sterne, die am Tag scheinen.
Elf Monde.
Rote Sonne.
Sterne, am Tag sichtbar.
Und nun weiß ich, wo ich bin, und die bestürzende Wahrheit rast durch mich hindurch wie die Flutwelle im Meer, die den Vulkankegel fortspült. Ich bin so weit umhergezogen, und nun bin ich angekommen – an dem Ort, zu dem ich die ganze Zeit über gelangen wollte. Trotz der Ängste, trotz des kleinmütigen Schwankens und Zauderns, die mich hemmten, die lange Suche ist von Erfolg gekrönt.
Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich möchte vor Ehrfurcht auf die Knie sinken. Ja, hier ist der Ort. Ich bin auf unserer Heimatwelt, dem verbotenen, dem heiligen Ort. »Hier in der stillen Mitte, wo die Welt auf ihrer Achse schläft …« {13} Wo Einst und Später sich vereinen … Wir können in Zeit und Raum in alle Richtungen wandern, doch nicht hierher; es ist wider das Gesetz, hierher zu kommen, ja, es ist nicht einmal möglich. Es liegt außerhalb unseres Zugriffs. So jedenfalls hatte ich immer geglaubt. Und wir alle haben es geglaubt. Und dennoch gelang es mir, und ich bin hier. Ich bin zu Hause!
Ich bin zu Hause. Hier ist der Zigeunerstern.
Wie könnte ich daran zweifeln? Dort droben schwebt kreisend und stoßend der Mulesko Chiriklo, der Totenvogel: lautlos die Schwingen, starr die leuchtenden Augen. Ich habe durch dieses unbekannte, wohlerinnerte Tor jenen Ort betreten, der für uns der Ort aller Orte ist. Die Zeitenstürme haben mich an das ferne Ende der Zeit verweht. Es waren die Nebeldünste der Dämmerung, die ich vertreiben musste. Doch jetzt sehe ich mit erschreckender Klarheit, hier an diesem uns stets verbotenen Ort, den wir für immer unserem geistigen Zugriff versagt glaubten. Aber ich bin hier, mein Geist ist hier. Ich habe ganz allein diese unmögliche Reise durchgestanden. Ich erkenne: Die verflossene Zeit und die künftige Zeit konvergieren in ein und demselben Ziel, und das ist immer das JETZT. Für mich gibt es nun weder Vergangenheit noch Zukunft mehr. Mein Schicksal hat seinen Kreis vollendet. In meinem Ende liegt mein Beginn.
Der Himmel über dem Zigeunerplaneten ist genauso, wie er in den Sagen und Legenden beschrieben ist. Eine rote Sonne, elf Monde, und die Sterne leuchten am Tage. Also haben sich die Geschichtenerzähler immerhin soweit an die Wahrheit gehalten, und das über die vielen tausend und tausend Jahre hin, in denen sie ihre Geschichten erzählten.
Doch sonst ist gar nichts so, wie ich es erwartet hätte. »Schimmernde Marmorpaläste«, sagte die Swatura- Sammlung. Prachtvolle Türme, weite Boulevards und Plätze, breite Zentralstraßen, leuchtende Tempel mit unzähligen Säulen. Nein! Das war Atlantis, nicht der Zigeunerstern. In unserer zweiten Heimat bauten wir anders, und wir vergaßen, dass wir vorher anders bauten. Auch hier ist Schönheit, aber eine Schönheit anderer Art: weniger auf Form bedacht, weniger monumental. Nichts hier sieht aus, als wäre es auf Dauer gedacht. Sie benutzen keine Steine als Baumaterial hier. Sie haben diese Stadt aus einer zarten Schilfart gewoben und geflochten; alles hier ist geschmeidig, ist nachgiebig. Aber ja, auch die Türme, die Brücken und die breiten Boulevards, aber sie schwingen in dem
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