Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Chorian starrte hinauf. Und Polarca starrte. Und mein Enkelsohn starrte. Aber anscheinend sahen sie nichts. Ich versuchte sie zu führen, indem ich ihnen die Anordnung der ringsum stehenden Sternkonstellationen beschrieb. Für mich war es inzwischen unverkennbar geworden, es war eindeutig. Der große blaue Stern, wo vorher der rote Stern gestanden hatte. Die dritten Wehen der Sonne waren im Gange, endlich, endlich; und danach würden wir – endlich! – sicher nach Hause heimkehren können. Dann würde ich mein Volk in schönen Schiffen, in Hunderten von Schiffen, Tausenden von Schiffen, in die Heimat senden. Wie lange mochte es sein, bis die Landung sicher war? Zehn Jahre? Hundert? Nun, ich würde das eruieren können. Gleich morgen würde ich die Kaiserlichen Astronomen fragen.
Aber wie wenn die mir sagten, es wird fünfhundert Jahre dauern? Ach, was macht das schon? Es macht gar nichts. Dann wird eben irgendein anderer die Rückkehr leiten, aber sicher doch. Chorian? Das würde mir gefallen, wenn es Chorian sein könnte. Oder dieser kleine junge Yakoub vielleicht? Oder vielleicht erst sein Enkel. Auch das wäre alles, alles gut so. Ich hatte mich an meinen Eid gehalten. Ich hatte lange genug gelebt und die Zigeunersonne, unseren Heimatplaneten, mit eigenen Augen erblickt. Und lange genug, uns auf die Bahn zu lenken, die uns in die Heimat zurückführen würde.
Und nun? – Es wartet eine Menge Arbeit auf den König – und auf den Kaiser. Große Vorhaben und Aufgaben warten, und ich werde sie meistern, denn ich bin genau der richtige Mann dafür. Auch das wusste ich schon vor langer Zeit. Und ihr, ihr wisst das jetzt ebenfalls, denn euch habe ich ja meine Geschichte erzählt, und die ist nun zu Ende, auch wenn meine Arbeit es nicht ist. Was da noch kommen wird, wir werden es sehen. Dies war meine Geschichte, und ich habe sie berichtet. Chapite! Das ist ein Wort der Zigeunersprache, das unsere Märchenerzähler ausspucken, wenn ihre Geschichte zu Ende ist. Also: Chapite! Es ist alles wahr! Es ist wahrlich alles wahr!
Nachwort des Übersetzers
Das Leben von Minoritätengruppen war wohl in keiner Epoche paradiesisch, seien sie nun rassische oder religiöse Wenige in einem Majoritätsumfeld gewesen. (Ausnahmen in der jüngeren Geschichte bilden vielleicht die verschiedenen ›Eroberervölker‹ und ›Kolonialherren‹ – etwa die maurischen Araber in Nordafrika und Spanien; die ›christlichen Abendländer‹ auf nahezu jedem exploitierbaren Fleckchen Erde; die jeweils herrschende Ethnische Minorität in verschiedenen ›sozialistischen‹ Vielvölkerstaaten.) Jedoch wurde kaum einer ethnischen Minorität – außer den Juden – im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder so übel mitgespielt wie den sogenannten ›Zigeunervölkern‹.
Es war schon immer eines der macht-erhaltenden Prinzipien der jeweiligen Macht-Habenden, für zufällige oder selbstverschuldete Missstände im Land dem Volk – ›Sündenböcke‹ zu schaffen und sie ihm zur Belustigung und zum Quälen zu überantworten. Und die ›Fremden‹, die ›Außenseiter‹, boten sich – eben durch ihre Andersartigkeit und die damit häufig verbundene Rechtlosigkeit oder doch Minder-Berechtigung – als Opfer zwar nicht geradezu selbst an … wurden aber immer wieder bequeme Opfer für den ›Volkszorn‹. Wenn einem dummen Bauern ein Tier verreckte, das er schlecht behandelt hatte, waren die durchreisenden Zigeuner schuld daran – oder das (unverheiratete) arme Kräuterhexenweiberleut am Rande der Gemeinde – oder der ›Handelsjud‹. Wenn infolge der kirchlicherseits verhängten stupiden Hygienevorschriften epidemische Seuchen ausbrachen, dann hatten die ›Zigeuner‹, die ›Juden‹ oder ›die Hexe‹ die Brunnen vergiftet. Angesichts der abscheulichen Behandlung, die man dem ›Fremdling‹, dem ›Misfit‹ (also ›Nichtangepassten‹) in vielen dieser Gesellschaftssysteme zuteil werden ließ (und bis heute lässt), wäre es eigentlich kein Wunder, wenn diese Unterdrückten, Beleidigten, Misshandelten tatsächlich zu derartigen Revanche-Methoden gegriffen hätten; wenn dies wirklich je geschah, dann muss die Provokation und Misshandlung einzelner so unerträglich gewesen sein, dass sie ihre ›Minderheiten-Vernunft‹ außer acht ließen. {15} In der Regel nämlich sind rassische und religiöse Minoritäten schon wegen ihrer geringeren Zahl stärker traditionsbewusst und gruppenverantwortlich, brauchen den Zusammenhalt mit den Ihren
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