Zigeunerstern: Roman (German Edition)
des Landes umzuziehen. Da ich inzwischen wusste, dass man mich finden konnte, war mein Entschluss nicht so sehr davon bestimmt. Ich war ja grundsätzlich nie völlig ›aus der Welt‹ gewesen – für jene, die sehen konnten. Nein, ich hatte nur an diesem einen Platz hier lange genug gelebt. Es steckte etwas in der Seele von uns Roma, das uns nicht erlaubt, sehr lange an ein und demselben Ort zu bleiben.
In den alten Tagen, als es die Erde noch gab, waren die meisten meines Volkes Nomaden, Wanderer. Wir lebten in Wohnwagen und streiften überall umher, wo wir wollten. Und wenn das Wetter nicht allzu übel war, schliefen wir nachts unter den Sternen. Im Winter stellten wir dann vielleicht die Wagen eng zusammen und blieben während der schlechten Jahreszeit an einem Ort; doch kaum nahte der Frühling, schon zogen wir wieder davon. In wenigstens einem Dutzend der alten Erdsprachen wurden die jeweiligen Wörter für ›Zigeuner‹ gleichbedeutend mit ›Wanderer‹, ›Ungebundene‹, ›Streuner‹, ›Nichtsesshafte‹. Dichter sangen Zeilen wie: »Ich muss hinaus aufs Meer nun wieder, zum freien Vagabundenleben der Zigeuner.« Wozu ich sagen muss, bei allem gebührenden Respekt vor Dichtern, dass das natürlich völliger Quatsch ist. Ein echter Zigeuner würde nie zur See fahren, ebenso wenig wie er seine Pferde schlachten und Wurst aus ihnen machen würde. Die See, die See, die fischstinkende See – nein, kein Zigeuner legt Wert darauf, auf dem Meer zu sein. In Küstennähe zu leben, das ja, das ist was Feines. Angenehme Brisen, gutes Essen. Aber sich da hinauswagen und auf den Wogen herumgewirbelt werden? Das, nein, niemals. Da sind die weiteren Meere des Weltraums vorzuziehen, still und – na ja, jedenfalls versteht ihr ja wohl, was diese alten zwar wohlmeinenden, aber fehlinformierten Dichter zu sagen versuchten. Sie beschäftigten sich immerhin wenigstens mit uns.
Aus irgendwelchen Gründen empfanden die Gaje uns und unser Wanderleben als furchtbar ärgerlich und lästig. Alles, was sie nicht beherrschen und kommandieren können, verursacht ihnen ein Kribbeln an der Innenseite ihrer Schädel. Manchmal versuchten sie Gesetze zu erlassen, die uns zwingen sollten, uns an einem festen Wohnsitz niederzulassen. Hah! Wozu sollte so etwas gut sein? Bei uns gab es das alte Sprichwort: Wenn du einen Zigeuner zwingen willst, an ein und demselben Ort zu leben, dann ist das so, als wolltest du einen Löwen vor den Pflug spannen. Das ganze Leben an die selben paar Wände mit einem Dach drüber gefesselt zu sein, an das selbe kleine Fleckchen Ackerboden, die selbe staubige Straße – also, für uns wären das Folterqualen, ein Sklavendasein. Denn uns war bestimmt zu wandern.
Nun, die Dinge des Lebens ändern sich, mehr oder weniger; aber je mehr sie sich ändern, desto mehr bleibt sich alles gleich. (Für diesen Gedanken kann ich keine Urheberschaft beanspruchen. Es war ein gescheiter Gajo, der diese Weisheit vor tausend Jahren sagte. Und schaut jetzt nicht dermaßen überrascht drein. Sogar bei den Gaje gibt es hin und wieder – bei einigen – Momente der Erleuchtung.)
Es gibt jetzt keine Löwen mehr, und es gibt keine Pflüge mehr, und die Zigeuner haben schon vor langer, langer Zeit aufgehört, in schäbigen, von Pferden gezogenen Wagen umherzuziehen. Aber die Vorstellung, gebunden, irgendwo festgebunden zu sein, macht uns noch immer Schwierigkeiten. Gewiss, wir leben vielleicht eine Weile in festen Häusern – aber nur für eine Weile. Früher oder später ziehen wir weiter. Und wenn wir weiterziehen, dann nicht mehr von dem einen lächerlichen kleinen Land zum anderen auf demselben Kontinent desselben kleinen Planeten. Jetzt ziehen wir in großen Sprüngen über Entfernungen von Tausenden von Lichtjahren.
(Es gäbe zum Beispiel heute kein Imperium – ohne uns. Das können die Gaje nun wahrhaftig nicht leugnen. Gut, sie haben vielleicht die Interstellarschiffe gebaut, aber wir haben sie an die fernsten Grenzen des Raums gesteuert. Und das alles nur, weil wir ein ruheloses, ein unruhiges Volk sind; all das nur, weil wir nie irgendeinen Flecken als unsere Heimat bezeichnen können, außer unserer wahren und wirklichen Heimat, die uns vor zehntausend Jahren grausam genommen wurde. Anderswo ist keine Heimat, bestenfalls Schutz und Unterschlupf, Orte, an denen wir warten.)
Also hatte ich nun meinen Umzugstag. Blaugrüne Wolken flogen wie gehetzt über den limonengelben Himmel. Die Luft – scharf und dreimal
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