Zigeunerstern: Roman (German Edition)
ich König werden musste, dass es da gar keine Wahlmöglichkeit gab. Erst dann ließ ich mir von ihnen die Königschaft übertragen.«
»Und deine Abdankung? Warum hast du das getan?«
Erstaunlich, aber auf einmal klang ihre Stimme sehr viel weicher. Für diesen einen Augenblick also stand sie nicht im Kampf mit mir. Es hörte sich so an, als bekümmere sie das alles wirklich. Und ich, ich spürte, wie ich vor Liebe dahinschmolz. Wie ein unreifer Junge, wie ein Chorian, wie ein dummer weltfremder Tor.
»Du willst es wirklich wissen?«, fragte ich.
Sie kam näher zu mir. Die schimmernden Aureolen um sie herum verblichen, und sie sank herab, bis sie beinahe in Bodenhöhe schwebte, beinahe in meiner Reichweite war. Nur einen Kuss, dachte ich. Und wenn diese rosigen Brustwarzen fest gegen meine Hände reiben würden …
»Ich will es wissen, ja.« Ihre Stimme – noch immer weich.
»Ein taktischer Schachzug«, erklärte ich ihr.
Heiß brannte mir im Hirn die Erinnerung an jene letzten Tage, ehe ich mich vor den großen kris begab, um meine Abdankung zu verkünden. Diese Tage der Verzweiflung und des Chaos in meinem Herzen, als ich – wohin ich auch blickte – ebenfalls nur Chaos und Verfall schaute. Die umherstolzierenden jungen Männer und Frauen meines Volks, die sich ausstaffierten, um genau wie die Gaje auszusehen, die Mischheiraten, die Interstellarpiloten, die kurze Abstecher machten, um ihren kleinen Schmuggelgeschäften nachzugehen, und all das übrige: der endgültige Verfall einer uralten ehemals großen Rasse … Das war der Eindruck, den ich damals gewann. Ich versuchte mir einzureden, dass ich alles übertrieben sähe, dass ich mit meinen wachsenden Jahren zu einem verschrobenen Konservativen verkäme. Aber dann schließlich war ich in meinem Innern regelrecht explodiert, plötzlich, ohne dass noch eine Kontrolle möglich gewesen wäre, und ich war überzeugt, dass alles auseinanderbrechen müsse und dass darum ein paar äußerste Notmaßnahmen zu treffen wären. Damals rief ich die krisatora zusammen und erklärte ihnen meine Abdankung; und sollte ich zehntausend Jahre lang leben, nie werde ich den Ausdruck äußerster Verblüffung auf ihren Gesichtern vergessen, als ich ihnen meinen Entschluss mitteilte.
Syluise runzelte die Stirn. Eine Wolke, die vor der Sonne vorbeizieht.
»Ein taktischer Schachzug?«, wiederholte sie. »Das begreife ich nicht.«
Ich holte tief Luft. Ich hatte nie zuvor offen darüber gesprochen, nicht mit Polarca, noch mit sonst irgendwem. Aber vor Syluise hatte ich noch nie etwas geheim halten können. »Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass im Königreich alles in eine falsche Richtung läuft, dass wir die Orientierung verloren hätten, unser Ziel, unsere Aufgabe vergessen hätten. Ich hielt es für nötig, die Menschen aufzustören, sie zu verwirren. Sie wachzurütteln. Damit das Königreich wieder auf den rechten Kurs zurückfinde.«
»Kurs?«
»Ich spreche von dem Kurs auf die Sonne der Roma, unser Ziel«, sagte ich.
»O Yakoub!«
Sie hatte gleichzeitig einen Ton von Trauer in der Stimme, von Liebe, von Herablassung, alles drei zugleich. Aber doch wohl überwiegend Herablassung, vielleicht auch – Mitleid.
»Wo sind sie, die Roma des Romasterns?«, fragte ich heftig. »Wollen wir unsere wahre Heimat wieder bewohnen, oder ziehen wir es vor, auf ewig in der Verbannung zu leben? Denken wir denn über so etwas überhaupt noch jemals nach? Syluise, bedeutet dir das irgend etwas: das einzig wahre Land – die Heimat?«
Ihr Polarlichtermantel flammte wieder auf. Ich vermochte ihr Gesicht nicht länger zu erkennen.
» Ein feistes, selbstgefälliges Volk, in Sattheit und Üppigkeit schwelgend – ist es das, wozu wir jetzt geworden sind, Syluise? Wir steuern unsere Weltraumkreuzer, wir sind den Gaje zu Diensten, wir richten uns schmiegsam und schnurrend im Schoß dieses Gaje-Imperiums ein? Sind wir so heruntergekommen? O nein, hoffentlich nicht. Denn sobald wir einmal das aus den Augen verlieren, was wirklich wichtig ist, verlieren wir auch die Erkenntnis unseres wahren Selbst. Und dann sind wir auch nicht besser als die Gaje. Ist es das, was du möchtest, Syluise? Ja, vielleicht ist es das. Dein wunderschönes Haar ist Gaje-Haar. Willst du das so sehr, Syluise? Dieser schmale, eingeschnürte Gaje-Bauch …« Auf einmal stieg der Zorn in mir hoch, höher und immer höher. »Verstehst du? Ich habe mitangesehen, wie mein eigenes Volk vom Weg abwich und sich verirrt
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