Zigeunerstern: Roman (German Edition)
dienen –, da ergab sich daraus für mich zunächst überhaupt kein Sinn.
»Alors, mon vieux!«, brüllte mir die Gestalt zu. » Mes hommages! Comment ça va? – Sacré bleu, wie es ist hier kalt!«
Ich bedachte ihn mit einem ausdruckslosen Blick und trat ein wenig zurück. Gespenster verstehe ich, Doppelgänger auch, aber das Gespenst eines Doppelgängers, also nein, das war zuviel!
Mit ziemlich brüchiger Stimme fragte ich: »Wo bist du denn entsprungen?«
»Ah, eine bessere Begrüßung hast du nicht für mich, mon ami?« Er sprach kühl, hochnäsig, superchauvinistisch, übellaunig und zutiefst verletzt. »Ich verbringe eine halbe Ewigkeit in der capsule de relais, um an diese grauenvolle Platze zu gelangän, und zeigst du jubilation bei meine Anblicke, bist du entzückt? Non, du mich fragst nur, brusquement, ohne die kleinste Fäserchen von Öfligheit, wo'er ich komme. Quel type! Wo blaibt die Ümarmung? Wo die Küss auf die Wangen?« Er warf die Hände in die Luft und brach in einen aberwitzigen Sturzbach willkürlicher französischer Phrasen aus wie ein verrückt gewordener Übersetzungsroboter. »Joyeux Noël! Bonne Année! A quelle heure part le prochain bateau? J'ai mal de mer! Faites venir le garçon! Par ici! Le voici! Il faut payer!« Und dabei kapriolte er herum wie ein Irrer.
Nach einiger Zeit ließ er nach, wie wenn das Getriebe zum Stillstand käme, und stand dann da und schaute trübselig zu, wie sein Atem ihm vor dem Gesicht gefror.
»Also freust du dich überhaupt nicht, mich zu sehen?«, sagte er sehr ruhig und leise.
Ich schaute ihn mir genau an. Doppelgänger sehen manchmal ein wenig durchsichtig und transparent in der Kontur aus. Dieser hier tat das nicht. Der da wirkte tatsächlich überhaupt nicht wie ein Doppelgänger. Er hatte Juliens lebhafte, flinke, durchdringende Augen und seine eleganten Bewegungen. Den schmalen dunklen Lippenbart und den kleinen spitzen Kinnbart, die ganz exakt getrimmt waren, nicht der Millimeter eines Härchens stand regelwidrig über, ganz so, wie es auch bei Julien stets der Fall gewesen war. Doppelgänger verlieren derartige kleine Feinheiten sehr rasch. Die schleichende Entropie setzt ein, und ihre Gestaltschärfe beginnt zu verschwimmen.
»Du bist es also wirklich selbst?«
»Mais oui«, sagte er. »Ich bin wirklich ich selbst.«
»Ehrlich, Julien?«
» Sacré bleu! Nom d'un chien! Ehrlich, wirklich, wahrhaftig und richtig! Was ist los mit dir, mein Lieber? Was ist aus deinem Kopf geworden? Ist es diese abscheuliche Kälte …?«
»Der Doppelgänger, den du mir geschenkt hattest«, erklärte ich. »Mir war nur nicht klar, wie ein Doppelgänger zurückkehren könnte.«
»Ah, der Doppelgänger! Der Doppelgänger, mon vieux …«
»Der ist schon vor langer Zeit verblichen, verstehst du. Und als ich ihn jetzt wiedersah – ich meine, als ich glaubte, ich sehe ihn wieder …«
»Oui, bien sûr.«
»Wie hätte ich das wissen können? Dass ein Doppelgänger zurückkommt, nachdem er einmal verschwunden ist? So etwas gilt doch als unmöglich. Irgendein Trick? Eine Methode, einen Killer durch mein Sicherheitssystem einzuschmuggeln? Beim behaarten Arschloch des Satans, Mann! Was hätte ich denn denken sollen?«
»Und was denkst du jetzt?«
Ich schaute ihn mir noch einmal lange genau an.
Als ich nichts sagte, geriet er wieder in Erregung. Er gestikulierte mit den Händen, warf auf diese stilisiert-hektische Weise, die ihm eigen war, den Kopf zurück. » Cordieu, cher ami! Mon petit Romanichel, gitan bien-aimé. Geliebter Mrilifiche, hochgeschätzter Cascarrot … ich bin es wirklich nur! Dein wahrer getreuer Julien! Vraiment, ich bin kein Doppelgänger. Auch kein assassin, kein Mörderbübe. Ich bin wahrhaft nur dein echter, eigener Julien de Gramont. Me voilà. Kannst du mir endlich glauben? Na, sprich schon! Was sagst du jetzt, du König der Zigeuner?«
Ja. Natürlich. Wie hätte ich noch zweifeln können? Er war es, war das echte Schmuckstück, keine Talmi-Imitation. Es war unmöglich, dass irgendein Doppelgänger jemals so viel Hitze, so viel Hektik, so tiefe reizbare Leidenschaft an den Tag legen konnte …
Es war peinlich.
Ich war zerknirscht.
Und ich kam mir wie ein verfluchter Idiot vor.
Es ist ja vielleicht nicht gerade eine duellwürdige Beleidigung, einen Mann für seinen Doppelgänger zu halten, doch es ist gewisslich auch nicht gerade ein schönes Kompliment. Und ich hatte das dem armen Julien de Gramont zugemutet, ihm mit seinen
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