Zigeunerstern: Roman (German Edition)
von kaltem, strengem Gemüt handelte; wahrscheinlich traf beides zusammen. Jedenfalls teilte man uns eine Woche nach Lanistas Weggang mit, dass unser Anteil an der Tagesausbeute von nun an auf ein Fünftel der bisherigen Prozente reduziert werde und dass man die Abrechnungen rückwirkend für die vergangenen achtzehn Monate dementsprechend revidieren werde. Ferner wurden die täglichen Bettelschichten verlängert, und man erwartete von uns, dass wir täglich zehn Oboloi für unsere Mahlzeiten beisteuerten, die wir vorher von der Loge kostenlos erhalten hatten. Mehr noch, es gab plötzlich viel weniger zu essen und es schmeckte auch noch dazu schlechter (nicht etwa, dass das Logenessen je besonders exquisit gewesen wäre).
Das alles ergab für mich keinen Sinn. Es tut es auch heute noch nicht. Die Arbeiterbelegschaft hungern zu lassen, das ist sicher keine geeignete Methode der Produktionssteigerung. Es für uns praktisch unmöglich zu machen, uns die Freiheit zu erkaufen, widersprach nicht nur der erklärten Politik der Gilde, uns möglichst bis zu unserem zwölften Jahr loszuwerden, sondern raubte uns auch jeglichen Anreiz, für volle Bettelschalen zu sorgen. (Doch selbstverständlich lag das Hauptinteresse der Gilde bei den Gesprächen, die wir ahnungslos mitschnitten, nicht so sehr in den Münzen, die wir den Leuten abluchsten; obwohl unsere Einnahmen alles andere als unbedeutend waren.) Die beste Erklärung, die ich finden kann, wäre die, dass die Firma versuchte, uns zu Aufmüpfigkeit, Unzufriedenheit und Unwilligkeit aufzustacheln, um so einen Vorwand zu bekommen, uns weiterzuverkaufen, solange wir noch unter Lehrkontrakt waren, anstatt uns den Freikauf zu ermöglichen. Eine ziemlich miese, engstirnige und zum Scheitern verurteilte Firmenpolitik. Aber schließlich steckt die Geschichte der Menschheit ja voll von derlei Idiotien.
Ihr fragt, ob wir denn nicht gegen all dies protestiert haben? Bei wem hätten wir uns beschweren können? Und was hätte es uns genutzt? Wir waren schließlich Sklaven.
Mir bereitete es nach wie vor solch enormen Spaß, mich bei meinen üppigen Lustdamen herumzutreiben – und nun, da ich fast schon zehn Jahre alt war, lernte ich täglich neue Geheimnisse begreifen –, dass mir die Veränderungen in der Loge anfangs recht gleichgültig waren. Aber ich wuchs rasch, und angesichts der neuen Essensrationen knurrte mir beständig der Magen. Das machte mich wütend. Und bei der Monatsabrechnung entdeckte ich, dass ich inzwischen von meiner Freilassungsurkunde hoffnungslos weit entfernt war, dass an die Rückkehr nach Vietoris, zu meiner Familie, zu meinem Vater überhaupt nicht zu denken war. Als darum meine Bettelgenossen untereinander zu agitieren und zu konspirieren begannen, war ich nur allzu bereit und willens, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen.
Der Anführer war Focale. Das war der hochgewachsene plattgesichtige Junge, der mich am ersten Tag unserer Fahrt nach Megalo Kastro nach meinem Auktionspreis gefragt hatte. Damals hatte ich ihn nicht gemocht. Doch später waren wir Freunde geworden – mehr oder weniger. Er war inzwischen noch länger geworden, und sein Gesicht war noch weniger attraktiv, seltsam klein und verkniffen, mit kleinen, wie ausgewaschen wirkenden Augen.
»Wir sollten abhauen«, sagte er eines Tages, als wir im Badehaus waren. Da wir dabei unsere Amulette nicht trugen, bekamen unsere Aufseher auch keine Aufzeichnung unseres Gesprächs mit. »Die können uns nicht festhalten. Wir schlagen uns zum Starport durch und schleichen uns in eins der auslaufenden Schiffe.«
Das war selbstverständlich reiner Wahnsinn. Aber vergesst nicht, wir waren schließlich nur Kinder.
Jedenfalls versuchten wir es, und zwar nicht nur einmal, sondern viermal. Wir schlichen uns aus dem Logenhaus und zockelten zu Fuß durch den Ort bis zum Hafen, um als blinde Passagiere auf irgendein Schiff zu kommen. Sie erwischten uns jedes Mal. Plötzlich tauchten jedes Mal vor und hinter uns die Zunftproktoren auf, die Wach- und Disziplinarbeamten der Firma, breite Pranken fielen uns schwer in den Nacken, es gab Fußtritte und Ohrfeigen und Tage bei Brot und Wasser: so geschah es jedes Mal. Wir hatten nicht die geringste Chance zu entkommen. In unseren geweihten Amuletten steckten nämlich Televektorsender, die beständig unsere jeweilige Position verrieten, was wir jedoch nicht wussten. Einmal ließen sie uns doch tatsächlich bis auf Sichtweite an den Flughafen herankommen. Wir glotzten die
Weitere Kostenlose Bücher