Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Seitenstraße, die direkt zur See hinabführte. An einer Biegung hielt er und befahl mir auszusteigen. Die Straße verlief hier entlang der dem Meer zugewandten Seite eines Steilkliffs, das aus irgendeinem stark erodierten seifig wirkenden weichen grünen Gestein bestand. Über und über voller Brüche und Absplitterungen. Die See lag zwanzig oder dreißig Meter weiter unten, und von dem Straßenrand ging es steil in die Tiefe. Ich hatte noch nie zuvor das Meer von Megalo Kastro näher zu sehen bekommen. Als ich hinunterschaute, kam es mir nicht im mindesten wie eine Wasserfläche vor: es sah rosig-steif aus, wie ein besonders widerwärtiger Eierkuchenteig, von dem noch der Dampf aufsteigt. Die Oberfläche wirkte rissig und grobkörnig, und ich sah nirgends Anzeichen einer Brandung und auch keine Wellen. Das Zeug lag einfach träge, fast bewegungslos da und presste sich mit kleinen verdächtig aussehenden Kräuselwülsten den Strand hinauf.
Der Proktor griff nach meinem Amulett und riss es mir vom Hals.
»Das wirst du ja jetzt nicht mehr brauchen, kleiner Zigeunerbengel.«
Ich erkannte, was geschehen würde, und versuchte auszureißen. Aber er war zu schnell für mich. Er packte mich in der Mitte, hob mich mit einer einzigen raschen Bewegung hoch über seinen Kopf und schleuderte mich hinab in die abscheuliche See.
6
Es war mein Tod. Daran zweifelte ich nicht. Wenn ich mir nicht den Hals brach beim Aufprall auf die Oberfläche des Meeres, so würde es mich doch sofort auffressen. Während ich hinabstürzte, wurde mir schlecht vor Angst, denn ich wusste, dass dies mein Ende bedeutete. All die Jahre lang hatte ich Geschichten über dieses sonderbare Meer gehört, dass es eine einzige lebendige organische Einheit bilde, riesenhaft, Tausende Kilometer tief und weit. Dass es sich von den auf dem Land lebenden Geschöpfen ernähre, die hineinstürzten, dass es zuweilen sogar klebrige Auswüchse auf die Küste ausstülpe, um sich vorüberziehendes Leben zu schnappen.
Ich fiel sehr lange. Mir kam es wie eine Stunde vor, und es dauerte so lange, dass die Furcht von mir wich und mich Ungeduld packte, was nun als nächstes geschehen werde. Ich spürte die Wärme der See mir entgegensteigen, nahm ihren merkwürdigen süßen, nicht einmal unangenehmen Geruch wahr. Über die Oberfläche spielten heiße Luftströmungen hin. Ich dachte an meinen Vater und an meine Schwester Tereina und an die mollige kleine Hure Salathastra. Dann prallte ich auf.
Doch trotz der Höhe, aus der ich gestürzt war, landete ich weich und leicht. Das Meer schien heraufzugreifen, um mich zu packen, und zog mich dann in sich hinein. Still lag ich dicht unter der Oberfläche, ohne Bewegung, eingebettet in diese dichte, seltsam warme Flüssigkeit, und mühte mich nicht einmal zu atmen.
War dies – vielleicht – der Tod? Wie friedlich!
Ich schwebte. Ich trieb dahin. Die See umfasste mich und trug mich. Ich spürte, wie meine Kleidung sich auflöste. Vielleicht hatte sich auch schon meine Haut aufgelöst, mein Fleisch, und ich war nur noch schimmerndes Gebein in dem dampfenden rötlichen Morast. Ich hielt die Augen geschlossen. Ich fühlte die streichelnden Finger des Meeres überall, auf den Schenkeln, dem Bauch, den Lenden glitten sie wie glitschige unsichtbare Schlangen umher, über meinen ganzen Leib. Beinahe lag darin etwas Ekstatisch-Lustvolles. Das Meer gab leise Schmatzlaute von sich. Es gurgelte und quietschte und zischelte. Ich breitete die Arme aus, und die Fingerspitzen der einen Hand berührten die Küste, und die Fingerspitzen der anderen Hand stießen ans Gestade des fernen unbekannten Kontinents im Westen, Tausende von Kilometern weit entfernt. Meine Zehen baumelten zu den tiefsten Wurzeln des Planeten hinab, wo in der Tiefe verborgene Vulkane brennende Lava ausstießen.
Ich werde verdaut, dachte ich.
Ich werde aufgelöst und zu einem Teil des Meeres gemacht.
Das störte mich nicht. Denn ich war ja tot. Ich liebte das Meer, und es war mir ein wonnigliches Gefühl von ihm verschlungen und aufgesogen zu werden, mich in einen Teil von ihm zu verwandeln.
Dann sprach eine tiefe Stimme zu mir: »Schwimm, Yakoub!«
»Schwimmen? Wohin?«
»Ans Ufer. Dieses Zeug kann dich nicht festhalten.«
»Aber es frisst mich auf.«
»Das tut es, wenn du es geschehen lässt. Aber warum solltest du es geschehen lassen?«
»Wer bist du?«
»Öffne die Augen, Yakoub!«
Ich hielt sie geschlossen. Ich trieb weiter dahin. Warm, geborgen,
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