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Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Titel: Zigeunerstern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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schlafträge.
    »Yakoub!«, ertönte wieder diese tiefe, dunkle Stimme. Drängender diesmal. »Wach auf! Wach auf, du Feigling!«
    Der Stich saß. »Feigling? Ich?«
    »Du hast es gehört.«
    »Wieso denn Feigling?«
    »Weil du dein ganzes Leben an das da verkaufst, es für einen törichten Gewinn verschleuderst. Hast du etwa Angst vor dem Leben? Schreckst du davor zurück, all das Große auszuführen, das dein Schicksal für dich bereithält?«
    Ich machte die Augen auf. Überall um mich herum purpurner Dunst. Über mir sah ich einen Geist in blitzender Goldaura. Funkelnde Augen, schwarzer Lippenbart. Das Gesicht meines Vaters, oder doch beinahe. Beinahe. Nein, nicht mein Vater, aber ihm eng verwandt, das unbedingt, einer, den ich gut kannte. Besser kannte als sogar meinen Vater. Er sah zornig aus, doch er lächelte gleichzeitig zu mir herab. »Yakoub«, murmelte er. Sanfter diesmal. »Schwimm, Yakoub! Du musst! Dieser Tod ist nicht für dich bestimmt.«
    »Welcher Tod ist es denn, Vater?«
    »Ich bin nicht dein Vater.«
    »Was willst du, dass ich tun soll?«
    »Schwimm!«
    »Wie?«
    »Heb deinen Arm! Gut. Und nun den anderen. Und schlage, schlag, schlag. Gut so, Yakoub! Schlag zu, schlage!«
    Die Schlängelfinger der See tanzten um mich wie Würmer, die sich auf den Schwanzenden aufrichten. Meermodder klebte mir im Mund, in den Augen und Ohren. Ein Strang hielt mich an der Kehle fest. Ein anderer streichelte mir über das Geschlecht, und ich spürte wie es sich versteifte und stieß mit den Hüften rhythmisch gegen den warmen nachgiebigen Schlick. Ab und zu öffnete ich die Augen. Überall blitzten Farben. Das Ufer lag weit ab, war nur ein schwarzer Strich vor dem Himmel. Der Geist schwebte noch über mir, seine Augen leuchteten mir ermutigend zu. Er sprach nicht mehr, doch ich konnte ihn jedes Mal dröhnend lachen hören, wenn ich wieder einen Schlag weitergeschwommen war. Ich bemerkte weitere Gespenster, fünf, sechs, ein Dutzend. Die schöne Frau war wieder da. Sie winkte mir, drängte mich weiterzumachen. Bilder flackerten in der Luft, Menschenscharen, Festroben, funkelnder Kopfputz, fremde Planeten, ehrfurchtgebietende Zeremonien. Würgte die See diese Szenen aus sich herauf, oder produzierten meine Schutzgeister sie? Schwimm, Yakoub, schwimm! Schwimm! Was war das für ein Kampf! Wie sehnte ich mich danach, aufzugeben, mich sinken zu lassen, mich dem Morastmeer hinzugeben und hinabzugleiten, willenlos, in diesem immensen warmen streichelnden Leib. Einzugehen in die Große Mutter und in ihr mich aufzulösen. Doch meine Geister blieben unerbittlich. Schwimm, forderten sie, schwimm, schwimm!
    Und ich schwamm.
    Ich fand heraus, wie ich dem Meer Kraft entnehmen konnte, wie ich von seiner Energie zehren konnte, anstatt mich von ihm entkräftigen zu lassen, und ich schwamm nun mit gleichmäßigen Stößen küstenwärts. Ohne Pause, ohne langsamer zu werden. Mit jedem Stoß schien mir neue Kraft zuzuwachsen. Wie hätte ich auch zulassen sollen, dass ich hier starb? Es gab noch so viel für mich zu tun! Mein Leben rief mir zu: Schwimm, Yakoub! Lebe, Yakoub!
    Direkt am Rand des Meeres sah ich einen gewaltigen Baum stehen. Seine Wurzeln reichten bis tief in den Meeresgrund hinab, und sein Stamm, ein gewaltiger weißer Schaft mit blasspurpurnen Streifen, stieg gerade und glatt einhundert Meter (oder vielleicht auch zweihundert) in die Höhe, astlos bis auf die Krone hoch oben an der Spitze. Ich glaube, auch dieser Baum war ein Auswuchs der See, denn die gewaltige Krone, die sich weit spannte wie ein gigantischer Schirm, der einen riesigen blauen Schatten warf, war in unablässiger Metamorphose begriffen. Augen, Gesichter, gewundene Schlangen, lange flatternde Blätter, wildschlagende Schwingen, kühlzuckende Flammen, alles in wirbelnder, sich windender, ständig wechselnder Bewegung, und nichts auch nur zwei Sekunden lang beständig sich gleich. Ich glaubte, dass ich in einem der Gesichter Focale erkannt hätte, doch es tauchte so rasch auf und verging so plötzlich wieder, dass ich nicht sicher war.
    Dieser Baum bedeutete das Leben für mich. Er pulsierte und wogte und brauste mit jener Urkraft unablässiger Verwandlung, die Leben ist. Ich schwamm darauf zu. Ich wusste, dort lag meine Rettung, dort lagen für mich Heil und Sicherheit. Ich hörte, wie der Baum mir zusang, und als ich näher an ihn herangeschwommen war, begann auch ich zu singen.
    Ich sah die knorrigen Wurzeln über dem Meeresspiegel, ergriff eine,

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