Zirkus zur dreizehnten Stunde
hatte sie es gewagt in seine Nähe zu kommen. Er war unerreichbar. Er hatte sie nie wahrgenommen. In letzter Zeit noch weniger. Es schien, als hätte er nur für andere Frauen etwas übrig. Ein belustigtes Schnauben unterbrach ihre Gedanken.
„Ich kann dir helfen“, meinte die Frau und legte die Hand auf ihre Schulter. „Bring ihn zu mir und ich werde dafür sorgen, dass er alle anderen Frauen vergisst.“
„Aber … wie …“ Mia wandte sich der Frau zu. Ein kleiner Hoffnungsschimmer breitete sich in ihr aus.
„Ich sagte doch, es ist meine Spezialität.“ Das Lächeln der Fremden fesselte sie. „Bring ihn einfach dorthin.“ Sie drückte Mia einen kleinen Zettel in die Hand. Ein Ausschnitt der Straßen von London befand sich darauf. Eine Stelle war mit einem großen X markiert.
„Wie soll ich …“ sie brach ab. „Er … er hat keine Augen für mich. Ich könnte ihn niemals irgendwohin bringen.“
„Sag ihm einfach …“, die Frau beugte sich zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Hauchen verklang. Die Fremde drehte sich um und ging mit federnden Schritten davon. Ein seltsames Gefühl blieb in Mia zurück. Hätte sie wirklich eine Chance bei Aramis?
14. VI – Die Liebenden
Es war als würde Lillian aus einem Albtraum erwachen. Sie fühlte sich ausgelaugt, zitterte. Das Bild von Felicitas hatte sie die ganze Nacht verfolgt. Immer und immer wieder hatte sie es gesehen, doch ihr Körper war zu schwach gewesen, um aus dem Traum erwachen zu können. Wie eine Gefangene hatte sie darin festgehangen.
Lillian hatte lange geschlafen, länger als eine Nacht. Die Dämmerung brach bereits herein, löschte Lichter und Geräusche aus und hinterließ die Atmosphäre eines Grabes. Als sie nach draußen ging, konnte sie den heranziehenden Nebel sehen. Die Stimmung im Zirkus war gedrückt. Zumindest kam sie Lillian so vor. Vielleicht lag es auch nur an ihrer eigenen Depression. Vielleicht hatte sich auch wirklich etwas in den Zirkus geschlichen, etwas, das zuvor nicht hier gewesen war, oder zumindest nicht die Macht gehabt hatte, Unheil anzurichten. Es schien wie dickflüssiges Blut von den Ästen der Bäume zu tropfen, sich an die Räder der Wagen zu krallen und ließ die Planen überall schwer ankleben. Die Luft war feucht und satt. Sie drückte alles nieder.
Die Feuer wurden gelöscht, jeder zog sich zurück. Nur sie stand noch hier und starrte in den Nebel, solange, bis sie glaubte, Gestalten darin zu entdecken. War Felicitas dabei? War alles vielleicht nicht wirklich passiert? Ihr Blick fiel auf einen der Wölfe, die in der Nähe waren. Traurig lag er am Boden, den Kopf zwischen die Pfoten gebettet.
Es war kein Traum gewesen …
Stille legte sich über den Platz, die Dunkelheit löschte die letzten Fetzen von Leben aus.
Lillian seufzte. Warum verschwanden diese Bilder nicht mehr? Wie konnte sie jemals wieder an etwas anderes denken? Felicitas war gestorben, für sie gestorben! Hätte sie den Zirkus nicht betreten, hätte sie diese Geschichte nicht erzählt … alles wäre anders gekommen …
Warum hatte sie Damian vertraut? Sie hatte gespürt, dass er etwas in sich trug, das böse war. Jeder im Zirkus hatte es gewusst und trotzdem war sie mit ihm gegangen.
Um ihn zu sehen …
War sie ihm doch zu ähnlich? Hatte sie deshalb nicht wahrhaben wollen, zu was andere Wesen fähig waren? War das der Grund, warum sie dem Magier vertraut hatte, mit ihm gegangen war?
Hätte sie selbst so handeln können?
Lillian streckte die Hand von sich und starrte auf die Innenfläche. Leichter Nebel bildete sich darin und sickerte in wogenden Schwaden zu Boden. Er tropfte von ihren Fingern wie Blut. Blut aus einem frischen Herzen, einem Herz, das sie nun in den Händen hielt, das sie aus dem Körper gerissen hatte …
Als sie ihn aus der anderen Welt gezogen hatte, versucht hatte seine Seele zu befreien, hatte er sie am Ende angelächelt. Er hatte ihr verziehen.
„Danke“, in seinen Worten hatte kein Hohn gelegen, aber Lillian kam es so vor, als müssten sie regelrecht davor triefen. „Ich war nie glücklich mit meiner Frau“, hatte er gehaucht. „Aber ich war glücklich in deinen Armen sterben zu dürfen.“
Sollte sie froh sein? Es war kein Hass in ihm zu finden gewesen, keine Trauer, als seine Seele einfach verging. Nicht so bei Lillian. Sie ließ mit einem Seufzen die Hand sinken. Das Abbild des Herzes in ihrer Hand blieb. Der Nebel kroch näher, begann mit sanften Tentakeln nach ihr zu
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