Zirkuskind
oder die Lals überraschend hinter den Arekapalmen hervorspringen
könnten. Dabei wollte Farrokh lediglich ein bißchen Ruhe, um über sein wachsendes
Bedürfnis, sich schöpferisch zu betätigen, nachzudenken.
Dr. Daruwalla war
enttäuscht, daß er kein so begeisterter Leser mehr war wie früher. Sich Filme anzusehen
war einfacher; er hatte das Gefühl, der verführerischen Faulheit erlegen zu sein,
mit der sich Filme konsumieren ließen. Er war stolz, wenigstens nicht auf das Niveau
der masala -Filme herabgesunken zu sein – jener
Schundfilme der Bombayer Kinoszene mit ihrem Mischmasch aus Gesang und Gewalt. Doch
alles, was Europa und Amerika an knallharten Krimis zu bieten hatten, fesselte ihn,
und wenn es noch so seicht war; ihn reizte der von weißen, zähen Burschen handelnde
Schrott.
Der Filmgeschmack
des Doktors stand in krassem Gegensatz zu dem, was seine Frau gerne las. In diesen
Urlaub hatte sich Julia die Autobiographie von Antony Trollope mitgenommen, aber
Farrokh hatte wenig Lust, sich Teile daraus anzuhören. Julia las ihm gern Passagen
aus Büchern vor, die sie besonders gut geschrieben oder amüsant oder anrührend fand,
aber Farrokhs Vorurteil gegenüber Dickens erstreckte sich auch auf Trollope, dessen
Romane er nie zu Ende gelesen hatte und dessen Autobiographie er gar nicht erst
in die Hand nehmen wollte. Julia bevorzugte im allgemeinen Romane, aber Farrokh
vermutete, daß die Autobiographie eines Romanciers fast schon als Fiktion gelten
durfte – sicher konnten Romanautoren der Versuchung nicht widerstehen, ihre Autobiographien
zu erfinden.
[273] Diese Gedanken
führten den Doktor zu weiteren Tagträumereien über seine schlummernde Kreativität.
Da er praktisch nicht mehr las, überlegte er, ob er es nicht einmal mit Schreiben
versuchen sollte. Autobiographien freilich waren die Domäne derer, die bereits berühmt
waren – oder ein spannendes Leben geführt hatten. Da Farrokh selbst weder berühmt
war noch, wie er fand, ein sonderlich aufregendes Leben geführt hatte, war eine
Autobiographie wohl nicht das richtige für ihn. Trotzdem nahm er sich vor, einen
Blick in den Trollope zu werfen – wenn Julia nicht hersah –, nur um festzustellen,
ob er ihm vielleicht irgendwelche Anregungen bot. Allerdings bezweifelte er das.
Leider war die einzige
andere Lektüre seiner Frau ein Roman, der Farrokh ziemlich beunruhigte. Er hatte
einen Blick hineingeworfen, als Julia nicht hersah, und festgestellt, daß er sich
erbarmungslos, ja geradezu zwanghaft mit Sexualität beschäftigte. Außerdem war der
Autor Dr. Daruwalla völlig unbekannt, was ihn ebenso massiv einschüchterte wie die
unverblümte Erotik. Es war einer dieser ausgesprochen gekonnten Romane, hervorragend,
in klarer Prosa, geschrieben – das konnte Farrokh beurteilen –, und auch das schüchterte
ihn ein.
Dr. Daruwalla fing
jeden Roman gereizt und voller Ungeduld an. Julia las langsam, als wollte sie sich
jedes Wort auf der Zunge zergehen lassen, während Farrokh wie gehetzt vorwärtsstürmte
und dabei eine Liste kleinlicher Beschwerden an den Autor sammelte, bis er auf irgend
etwas stieß, das ihn davon überzeugte, daß der Roman lesenswert war – oder bis ihn
ein grober Schnitzer oder abgrundtiefe Langeweile dazu bewog, das Buch zuzuklappen.
Sooft Farrokh einen Roman ad acta legte, schalt er Julia wegen des sichtlichen Vergnügens,
das ihr die Lektüre bereitete. Seine Frau war eine Leserin mit breitgefächertem
Interesse, die fast alles, was sie anfing, auch zu Ende las; ihre Unersättlichkeit
schüchterte Dr. Daruwalla ebenfalls ein.
Und nun verbrachte
er hier seine zweiten Flitterwochen – [274] eine Bezeichnung, die er viel zu salopp
verwendete, denn seit ihrer Ankunft in Goa hatte er mit seiner Frau nicht einmal
geflirtet – und hielt ängstlich Ausschau nach irgendwelchen Duckworthianern, deren
befürchtetes Auftauchen den gesamten Urlaub zu ruinieren drohte. Verschlimmert wurde
die Sache noch dadurch, daß ihn der Roman, den seine Frau las, zutiefst beunruhigte
– zugleich aber sexuell erregte. Zumindest glaubte er, daß sie ihn las; aber vielleicht
hatte sie noch nicht damit angefangen. Falls sie ihn las, hatte sie ihm noch nichts
daraus vorgelesen, aber in Anbetracht einer ruhigen, aber eindringlichen Schilderung
eines Sexualaktes nach der anderen wäre es Julia sicher zu peinlich, ihm solche
Passagen laut vorzulesen. Oder wäre es etwa mir peinlich? fragte er sich.
Der Roman war so
fesselnd, daß es ihm
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