Zirkuskind
abzutreten; schließlich hatte der junge
Mann in seinem Zimmer ein eigenes Bett, und Farrokh und Julia konnten es ertragen,
eine Nacht lang getrennt zu schlafen – womit der Doktor meinte, daß er und seine
Frau sich nicht jede Nacht oder auch nur zweimal in der Woche liebten. Saubere zweite
Flitterwochen! dachte Farrokh abermals und seufzte tief.
Er hätte sich das
zehnte Kapitel für ein andermal aufsparen sollen, aber unversehens las er weiter.
Wie jeder gute Roman, lullte dieser ihn zunächst ein, so daß ihn die plötzliche [277] Kehrtwendung wie ein Keulenhieb traf. »Dann zieht er eilig, als hätte er es sich
anders überlegt, seine Kleider aus und schlüpft neben sie ins Bett. Die Stadt ringsum
schweigt. Auf den milchweißen Gesichtern der Uhren rucken die Zeiger, im Gleichschritt,
in neue Positionen. Die Züge fahren pünktlich. Über die leeren Straßen streichen
ab und zu die gelben Scheinwerfer eines Autos, und Glocken markieren die Stunden,
die Viertelstunden, die halben. Als würden Blumen ihn streifen, fährt sie sanft
den Ansatz seines Schwanzes nach, der sich inzwischen ganz in sie hineingebohrt
hat, berührt seine Eier und beginnt sich langsam in einer Art gehorsamem Aufbäumen
unter ihm zu winden, während er sich, in seinen eigenen Traum verfangen, etwas hebt
und den feuchten Rand ihrer Möse mit dem Finger nachfährt und dabei kommt wie ein
Bulle. Sie bleiben lange Zeit eng beieinander, noch immer ohne zu reden. Es ist
diese Form des Austauschs, die sie aneinanderschweißt, das ist das Schreckliche.
Diese Abscheulichkeiten führen sie zur Liebe.«
Das Kapitel war
noch nicht einmal zu Ende, aber Dr. Daruwalla mußte zu lesen aufhören. Er war schockiert;
und er hatte eine Erektion, die er mit dem Buch verdeckte, das er über seinen Schritt
stülpte wie ein Zelt. Ganz plötzlich, inmitten dieser glasklaren Prosa, dieser prägnanten
Eleganz, gab es einen »Schwanz« und »Eier« und sogar eine »Möse« (mit einem »feuchten
Rand«), und diese Akte, die die Liebenden vollzogen, waren »Abscheulichkeiten«.
Farrokh schloß die Augen. Hatte Julia diesen Teil gelesen? Normalerweise ließ ihn
das Vergnügen seiner Frau an den Passagen, die sie ihm laut vorlas, gleichgültig.
Sie unterhielt sich gern mit ihm darüber, wie bestimmte Abschnitte auf sie wirkten
– auf Farrokh hatten sie selten irgendeine Wirkung. Jetzt empfand er das überraschende
Bedürfnis, die Wirkung dieses Abschnitts mit seiner Frau zu erörtern, und der Gedanke
daran verstärkte seine Erektion. Er spürte, wie sein Ständer dieses erstaunliche
Buch berührte.
[278] Der Doktor wird Zeuge einer noch unvollständigen Geschlechtsumwandlung
Als der
Doktor die Augen öffnete, fragte er sich, ob er gestorben und an dem Ort aufgewacht
war, den die Christen als Hölle bezeichnen, denn neben seiner Hängematte standen
zwei Gestalten aus dem Duckworth Club, die er nicht sonderlich schätzte, und schauten
auf ihn herunter.
»Lesen Sie dieses
Buch wirklich oder benutzen Sie es nur zum Einschlafen?« fragte Promila Rai. Neben
ihr stand ihr nunmehr einziger Neffe, dieser widerwärtige und ehemals unbehaarte
Junge Rahul Rai. Aber der Doktor bemerkte, daß etwas mit Rahul nicht stimmte. Rahul
schien jetzt eine Frau zu sein. Zumindest hatte er die Brüste einer Frau; ein Junge
war er gewiß nicht.
Verständlicherweise
war Dr. Daruwalla sprachlos.
»Schlafen Sie noch
immer?« fragte ihn Promila Rai. Sie legte den Kopf schräg, so daß sie den Titel
des Romans und den Namen des Autors lesen konnte, während Farrokh das Buch krampfhaft
in seiner zeltähnlichen Position über seiner Erektion festhielt, die er Promila
– und ihren entsetzlichen Neffen-mit-Brüsten – natürlich nicht sehen lassen wollte.
Promila las den
Titel betont laut vor. »Ein Spaß und ein Zeitvertreib. Nie davon gehört«, sagte sie.
»Es ist sehr gut«,
versicherte ihr Farrokh.
Argwöhnisch las
Promila den Namen des Autors. »James Salter. Wer ist denn das?« fragte sie.
»Ein großartiger
Autor«, entgegnete Farrokh.
»Und worum geht
es?« fragte Promila ungeduldig.
»Um Frankreich«,
sagte der Doktor. »Das wahre Frankreich.« Diese Formulierung war ihm noch aus dem
Roman in Erinnerung.
Promila langweilte
sich bereits mit ihm. Es war einige Jahre her, seit er sie das letzte Mal gesehen
hatte. Farrokhs Mutter [279] Meher hatte ihm wiederholt über Promilas zahlreiche Reisen
ins Ausland und über die unbefriedigenden Ergebnisse ihrer kosmetischen
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