Zirkuskind
nicht mehr genügte, nur kurz hineinzulinsen. Inzwischen war
er dazu übergegangen, ihn mit einer Zeitung oder Zeitschrift zu tarnen und sich
damit in eine Hängematte zu verziehen. Julia vermißte ihn offenbar nicht; vielleicht
las sie ja den Trollope.
Das erste Bild,
das Farrokhs Aufmerksamkeit erregte, tauchte nur wenige Seiten nach Beginn des ersten
Kapitels auf. Der Erzähler sitzt in Frankreich in einem Zug. »Das Mädchen mir gegenüber
ist eingeschlafen. Sie hat einen schmalen Mund, abfallende Mundwinkel, herabgezogen
von bitterer Erfahrung.« Sofort hatte Dr. Daruwalla das Gefühl, daß das guter Lesestoff
war, vermutete aber zugleich, daß die Geschichte unglücklich enden würde. Der Doktor
war nie auf die Idee gekommen, daß ein Hindernis zwischen ihm und wirklich ernsthafter
Literatur darin bestand, daß er keine traurigen Schlüsse mochte. Er hatte ganz vergessen,
daß er früher als junger Leser traurige Schlüsse bevorzugt hatte.
Erst im fünften
Kapitel begann die freimütige, voyeuristische Art des Ich-Erzählers Dr. Daruwalla
zu stören, weil sie ihm seine eigene, beunruhigend voyeuristische Veranlagung zum [275] Bewußtsein brachte. »Wenn sie geht, bekomme ich weiche Knie. Der wiegende, weibliche
Gang. Runde Hüften. Schmale Taille.« Getreulich wie immer dachte Farrokh an Julia.
»Man sieht einen Schimmer des weißen Unterkleids dort, wo ihre zugeknöpfte Jacke
leicht über dem Busen spannt. Meine Augen werfen immer wieder rasche, hilflose Blicke
darauf.« Ob Julia so etwas gefällt? überlegte Farrokh. Und dann, im achten Kapitel,
nahm der Roman eine Wendung, bei der ihm vor Neid und Verlangen elend wurde. Saubere
zweite Flitterwochen! dachte er. »Sie wendet ihm den Rücken zu. Mit einer einzigen
Bewegung zieht sie ihre Jacke über den Kopf, greift mit jener unguten Ellbogendrehung
nach hinten und hakt den Büstenhalter auf. Langsam dreht er sie um.«
Dr. Daruwalla mißtraute
dem Autor, diesem Ich-Erzähler, der so detailbesessen die sexuellen Erkundungen
eines jungen, im Ausland weilenden Amerikaners und eines französischen Mädchens
vom Lande – der achtzehnjährigen Anne-Marie – schilderte. Er durchschaute nicht,
daß der Leser ohne die unbehagliche Anwesenheit des Erzählers den Neid und das Verlangen
des ewigen Zuschauers nicht hätte miterleben können, eben das, was Farrokh nicht
mehr losließ und ihn dazu trieb, immer weiter zu lesen. »Am nächsten Morgen tun
sie es wieder. Graues Licht, es ist noch sehr früh. Sie riecht aus dem Mund.«
An dem Punkt wußte
Dr. Daruwalla, daß einer der Liebenden sterben würde; ihr Mundgeruch war ein unliebsamer
Hinweis auf die Sterblichkeit. Er wollte das Buch beiseite legen, brachte es aber
nicht fertig. Irgendwann stellte er fest, daß er den jungen Amerikaner nicht mochte
– er ließ sich von seinem Vater unterstützen, hatte nicht einmal einen Job –, sich
aber aus tiefstem Herzen nach dem französischen Mädchen sehnte, das hier seine Unschuld
verlor. Der Doktor wußte nicht, daß er genau das empfinden sollte. Das Buch überstieg sein Fassungsvermögen.
[276] Da Farrokh im
Rahmen seiner medizinischen Tätigkeit fast ausschließlich Gutes tat, war er schlecht
auf das richtige Leben vorbereitet. Er beschäftigte sich in erster Linie mit Mißbildungen,
Deformationen, Verletzungen bei Kindern und versuchte, die ursprünglich vorgesehene
Funktionsfähigkeit ihrer kleinen Gelenke wiederherzustellen. Im richtigen Leben
gab es kein so klares Ziel.
Ich lese nur noch
ein Kapitel, dachte Dr. Daruwalla. Neun hatte er bereits gelesen. Am hintersten
Ende der Bucht lag er in der Mittagshitze in einer Hängematte unter den absolut
reglosen Blättern der Areka- und der Kokospalmen. In den Geruch von Kokosnuß, Fisch
und Salz mischte sich gelegentlich der Haschischgeruch, der über den Strand zog.
Wo der Sand an das grüne Gewirr üppiger, tropischer Vegetation stieß, machte ein
Zuckerrohrstand einem Karren, an dem Mango-Milkshakes verkauft wurden, ein kleines
Schattendreieck streitig. Der Sand war naß von geschmolzenem Eis.
Die Daruwallas hatten
eine Zimmerflucht mit Beschlag belegt – ein ganzes Stockwerk des Hotel Bardez, zu
dem ein großer, offener Balkon gehörte, auf dem es allerdings nur eine einzige Schlafhängematte
gab, die John D. für sich beansprucht hatte. Dr. Daruwalla fühlte sich in seiner
Strandhängematte so wohl, daß er beschloß, John D. zu überreden, ihm die Hängematte
auf dem Balkon wenigstens für eine Nacht
Weitere Kostenlose Bücher