Zirkuskind
wirken. Wieder erschreckte Promila Farrokh damit, daß sie mit den Fingern auf
sein Buch trommelte, das er noch immer fest umklammerte.
»Ist die ganze Familie
da?« fragte sie, wobei sich »die ganze Familie« wie etwas Groteskes anhörte, wie
wilde Heerscharen.
»Ja«, antwortete
Dr. Daruwalla.
»Und dieser wunderschöne
Junge ist hoffentlich auch hier. Ich möchte, daß Rahul ihn kennenlernt!« sagte Promila.
»Er muß jetzt achtzehn
sein – nein, neunzehn«, sagte Rahul verträumt.
»Ja, neunzehn«,
sagte der Doktor kurz angebunden.
»Daß ihn mir ja
niemand zeigt«, sagte Rahul. »Ich möchte wissen, ob ich ihn aus der Menge herauskenne.«
Mit dieser Bemerkung wandte er sich von der Hängematte ab und ging davon. Nach Dr.
Daruwallas Ansicht hatte er die Richtung seines Abgangs bewußt gewählt, um dem Doktor
in der Hängematte den bestmöglichen Blick auf seine weiblichen Hüften zu gestatten.
Rahuls Pobacken kamen in dem knappsitzenden Sarong recht gut zur Geltung, und das
enganliegende, rückenfreie Oberteil betonte ähnlich vorteilhaft Rahuls Brüste. Trotzdem [282] waren, wie Farrokh kritisch bemerkte, die Hände zu groß, die Schultern zu breit,
die Oberarme zu muskulös; die Füße waren zu lang, die Fesseln zu kräftig. Rahul
war weder perfekt noch komplett.
»Ist sie nicht eine
Augenweide?« flüsterte Promila dem Doktor ins Ohr. Sie beugte sich über ihn, so
daß der schwere silberne Anhänger, das Mittelstück ihrer Halskette, an seine Brust
schlug. Demnach war Rahul für Promila also bereits eine richtige »Sie«.
»Sie wirkt so… feminin«,
sagte Dr. Daruwalla zu der stolzen Tante.
»Sie ist feminin!«
entgegnete Promila Rai.
»Nun… ja«, meinte
der Doktor. Farrokh fühlte sich in der Hängematte gefangen, während Promila wie
ein Raubvogel – ein räuberisches Geflügel – über ihm schwebte. Sie roch ziemlich
penetrant – eine Mischung aus Sandelholz und Konservierungsflüssigkeit, mit einem
Hauch Zwiebeln, aber auch einer Prise Moos. Dr. Daruwalla gab sich alle Mühe, nicht
zu würgen. Als Promila Anstalten machte, ihm den Roman von James Salter wegzuziehen,
hielt er das Buch mit beiden Händen fest.
»Wenn das ein so
wunderbares Buch ist«, sagte sie argwöhnisch, »werden Sie es mir hoffentlich einmal
leihen.«
»Ich glaube, Meher
wollte es als nächste lesen«, sagte er, aber natürlich meinte er nicht seine Mutter
Meher, sondern hatte »Julia« sagen wollen.
»Ist Meher auch
hier?« fragte Promila rasch.
»Nein, ich meinte
Julia«, sagte Farrokh einfältig. Promilas höhnisches Lächeln verriet, daß sie sein
Sexualleben als so langweilig einschätzte, daß er seine Frau mit seiner Mutter verwechselte
– dabei war er noch nicht einmal vierzig! Farrokh schämte sich, war aber auch verärgert.
Was ihn anfangs an Ein Spaß und ein Zeitvertreib gestört hatte, fesselte ihn jetzt.
Er [283] fühlte sich ungeheuer stimuliert, ohne dieselben Schuldgefühle wie bei Pornographie
zu empfinden. Das hier war so erlesen und zugleich so erotisch, daß er es mit Julia
gemeinsam genießen wollte. Der Roman hatte es irgendwie auf wunderbare Weise geschafft,
daß er sich wieder jung fühlte.
Dr. Daruwalla betrachtete
Rahul und Promila als sexuell abartige Wesen. Sie hatten ihm die Stimmung verdorben,
hatten seine Freude an diesem aufreizenden und gleichzeitig ernsthaften Buch getrübt,
weil sie so unnatürlich waren – so pervers. Er sollte lieber aufstehen und Julia
warnen, daß Promila Rai und ihr Neffe-mit-Brüsten die Gegend unsicher machten. Möglicherweise
mußten die Daruwallas ihren minderjährigen Töchtern irgendwie erklären, was mit
Rahul nicht ganz in Ordnung war. Farrokh beschloß, auf alle Fälle John D. Bescheid
zu sagen, denn es hatte ihm gar nicht gefallen, daß Rahul so erpicht darauf war,
John D. »aus der Menge« herauszukennen.
Ohne Zweifel hatte
Promila ihrem Neffen-mit-Brüsten eingeredet, daß John D. viel zu gut aussah, um
der Sohn von Danny Mills zu sein. Dr. Daruwalla glaubte, daß Rahul nach John D.
Ausschau hielt, weil der Möchtegern-Transsexuelle hoffte, an des Doktors liebem
Jungen Züge von Neville Eden zu entdecken!
Promila hatte sich
von ihm und seiner Hängematte abgewandt und tat so, als würde sie mit den Augen
den Strand nach dem »hinreißenden« Rahul absuchen. Dr. Daruwalla nutzte diese Gelegenheit,
um die Rückseite ihres Halses anzustarren. Sogleich bereute er es, denn zwischen
den verfärbten Falten starrte ihm ein tumorartiges
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