Zirkuskind
ins Gesicht, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. Aber
im nächsten Augenblick schien er wieder alles vergessen zu haben.
Man hörte Trillerpfeifen,
laut und durchdringend. Sie gehörten den großen Sikh-Portiers, die den Verkehr vor
dem Taj Mahal dirigierten, aber Nancy hielt Ausschau nach irgendeinem Hinweis auf
die Anwesenheit von Polizei. In der Nähe, am hoch aufragenden Gateway of India,
glaubte Nancy Polizisten bemerkt zu haben; da waren Lichter, hysterisches Geschrei,
irgendein Tumult. Zunächst hieß es, ein paar bettelnde Bengel seien der Grund. Angeblich
war es ihnen nicht gelungen, von einem jungen schwedischen Paar, das das Gateway
of India unter [332] demonstrativer und professioneller Verwendung grellweißer Scheinwerfer
und Reflektoren fotografiert hatte, auch nur eine einzige Rupie zu erbetteln. Daraufhin
hatten die Bengel das Gateway of India angepinkelt, um die Aufnahme zu verderben,
und als es ihnen nicht gelang, die Fremden entsprechend auf sich aufmerksam zu machen
– angeblich fanden die Schweden diese demonstrative Geste symbolisch interessant –, versuchten die Kerle, auf die Fotoausrüstung zu pinkeln, und das sei der Grund
für die Aufregung gewesen. Doch weitere Nachforschungen sollten ergeben, daß die
Schweden die Betteljungen dafür bezahlt hatten, daß sie an das Gateway of India
pißten, was wenig Wirkung hatte – das Wahrzeichen Bombays war bereits ziemlich verdreckt.
Die Burschen hatten keineswegs versucht, auf die Fotoausrüstung der Schweden zu
pinkeln – so dreist wären sie nie gewesen; sie hatten sich lediglich beschwert,
daß sie nicht genug für das Anpinkeln des Gateway of India bekommen hatten. Das
war der wahre Grund für die Aufregung.
Unterdessen mußte
der tote junge Mann im Taxi warten. In der Auffahrt des Taj Mahal wurde der tamilische
Fahrer hysterisch; man hatte ihm einen toten Mann vor sein Auto geworfen, das offenbar
eine Delle abbekommen hatte. Das britische Ehepaar vertraute einem Polizisten an,
daß der Tamile eine rote Ampel überfahren hatte (nachdem er einen Schlag mit einem
Dildo erhalten hatte). Es handelte sich um denselben verwirrten Wachtmeister, der
sich das Delikt mit dem bepinkelten Gateway of India endlich vom Hals geschafft
hatte. Nancy war nicht ganz sicher, ob das britische Ehepaar ihr die Schuld an dem
Unfall gab, sofern es überhaupt ein Unfall gewesen war. Schließlich einigten sich
der Tamile und der Engländer darauf, daß der Junge tot ausgesehen hatte, bevor ihn
das Taxi angefahren hatte. Mit Sicherheit wußte Nancy allerdings, daß der Polizist
nicht wußte, was ein »Dildo« war.
»Ein Penis, ein
ziemlich großer«, erklärte der Engländer dem Polizisten.
[333] »Sie?« fragte
der Polizist und zeigte auf Nancy. »Mit was hat sie den Taxifahrer geschlagen?«
»Sie werden es ihm
zeigen müssen, meine Liebe«, sagte die Engländerin zu Nancy.
»Gar nichts werde
ich ihm zeigen«, entgegnete Nancy.
Unser Freund, der echte Polizist
Es dauerte
eine Stunde, bis Nancy dazu kam, das Anmeldeformular an der Hotelrezeption auszufüllen.
Eine halbe Stunde später – sie hatte gerade ihr heißes Vollbad beendet – kam ein
zweiter Polizist zu ihr ins Zimmer. Er war kein einfacher Wachtmeister – keine kurzen,
extrem weiten blauen Hosen, keine albernen Stutzen. Das war nicht noch so ein Trottel
mit Nehru-Kappe. Er trug das Käppi eines Polizeibeamten mit dem Abzeichen der Polizei
von Maharashtra und ein Khakihemd, eine lange Khakihose, schwarze Schuhe und einen
Revolver und war der diensthabende Beamte der Polizeiwache Colaba, die für das Taj
Mahal zuständig war. Ohne seine Hängebacken, aber schon damals mit einem stolz zur
Schau getragenen, bleistiftdünnen Schnauzer machte der junge Inspektor Patel – zwanzig
Jahre bevor er die Gelegenheit bekommen sollte, Dr. Daruwalla und Inspector Dhar
im Duckworth Club zu befragen – auf Anhieb einen guten Eindruck. Das Auftreten des
jungen Polizeibeamten ließ den zukünftigen Kommissar erkennen.
Inspektor Patel
war energisch, aber höflich, und bereits mit Mitte Zwanzig hatte seine Art, Fragen
so zu stellen, daß gewisse Mißverständnisse aufkamen, etwas Einschüchterndes. Sein
Auftreten überzeugte einen davon, daß er die Antworten auf einen Großteil der Fragen,
die er einem stellte, bereits kannte, obwohl das normalerweise nicht der Fall war.
Auf diese Weise brachte er die Leute dazu, die Wahrheit zu sagen. Und außerdem hatte [334] diese Befragungsmethode den
Weitere Kostenlose Bücher