Zirkuskind
weiter!« brüllte
sie den Tamilen an. Entsprechendbeeindruckt von dem gigantischen Penis, gab er Gas
und fuhr über die Ampel, die jetzt wieder auf Rot stand. Zum Glück waren sonst keine
Autos auf der Straße. Doch unglücklicherweise standen die zwei jungen Männer mit
ihrem zusammengesackten Kameraden dem Taxi direkt im Weg. Erst kam es Nancy so vor,
als wären alle drei getroffen worden. Später erinnerte sie sich deutlich daran,
daß zwei von ihnen weggelaufen waren, obwohl sie nicht behaupten konnte, daß sie
den Aufprall wirklich gesehen hatte; bestimmt hatte sie die Augen geschlossen.
Während der Engländer
dem Fahrer half, den leblosen Körper auf den Beifahrersitz zu hieven, wurde Nancy
bewußt, daß es sich bei dem angefahrenen jungen Mann um denselben handelte, der
anscheinend betrunken war oder unter Drogen stand. Es kam ihr gar nicht in den Sinn,
daß er möglicherweise schon tot gewesen war, als ihn das Auto umstieß. Aber genau
darum ging es in der Unterhaltung zwischen dem Engländer und dem tamilischen Fahrer:
War der junge Mann absichtlich vor das Taxi gestoßen worden und war er überhaupt
bei Bewußtsein gewesen, bevor ihn das Taxi traf?
»Er hat tot ausgesehen«,
sagte der Engländer immer wieder.
[330] »Ja, er schon tot!« schrie der Tamile. »Ich nicht tot gemacht!«
»Ist er jetzt tot?«
fragte Nancy leise.
»Aber sicher«, antwortete
der Engländer. Wie der Zollinspektor vermied er es, sie anzusehen; doch seine Frau
starrte Nancy an, die noch immer den Dildo umklammert hielt. Der Engländer reichte
ihr, nach wie vor ohne sie anzusehen, die Socke. Sie hüllte die Waffe ein und steckte
sie wieder in ihren großen Beutel.
»Ist das Ihr erster
Besuch in Indien?« fragte die Engländerin, während der verrückte Tamile immer schneller
durch die zunehmend mit elektrischer Beleuchtung gesegneten Straßen fuhr. Überall
auf den Gehsteigen waren die bunten Hügel schlafender Menschen zu erkennen. »In
Bombay schläft die halbe Bevölkerung auf der Straße, aber eigentlich ist es hier
ziemlich ungefährlich«, meinte die Engländerin. Nancys gerümpfte Nase verriet dem
britischen Ehepaar, daß sie ein Neuling in dieser Stadt mit ihren Gerüchen war.
In Wirklichkeit war es der nachhaltige Gestank des Babys, dessentwegen Nancy das
Gesicht verzog. Wie etwas so Kleines nur so penetrant stinken konnte!
Dem Körper auf dem
Beifahrersitz war anzumerken, daß er tot war. Der Kopf des jungen Mannes schaukelte
leblos hin und her, die Schultern hingen völlig schlaff herunter. Wenn der Taxifahrer
bremste oder eine Kurve fuhr, reagierte der Körper schwerfällig wie ein Sandsack.
Nancy war dankbar, daß sie das Gesicht des jungen Mannes nicht sehen konnte, das
dumpf an die Windschutzscheibe schlug und platt dort klebenblieb, bis der Tamile
wieder eine Kurve fuhr und dann beschleunigte.
Noch immer ohne
Nancy anzusehen, sagte der Engländer: »Er spürt es nicht mehr, meine Liebe.« Es
war unklar, ob er mit Nancy oder mit seiner Frau gesprochen hatte.
»Mich stört er nicht«,
antwortete seine Frau.
Über dem Marine
Drive hing dichter Smog, so warm wie ein wollenes Leichentuch. Das Arabische Meer
verschwand hinter [331] einem Schleier, aber die Engländerin deutete dorthin, wo das
Meer hätte sein sollen. »Da draußen ist der Ozean«, erklärte sie Nancy, die zu würgen
begann. Nicht einmal die Werbeplakate an den Laternenmasten über ihren Köpfen waren
vor lauter Smog zu sehen. Die Lampen, die den Marine Drive säumten, waren damals
keine Nebellampen; sie waren weiß, nicht gelb.
In dem schwankenden
Taxi deutete der Engländer durchs Fenster auf den Smogschleier. »Das ist das Halsband
der Königin«, erklärte er Nancy. Während das Taxi weiterraste, fügte er – mehr um
sich selbst und seine Frau zu beruhigen, als um Nancy zu trösten – hinzu: »Wir sind
bald da.«
»Ich muß mich gleich
übergeben«, sagte Nancy.
»Wenn Sie nicht
daran denken, daß Ihnen schlecht ist, wird Ihnen auch nicht schlecht, meine Liebe«,
sagte die Engländerin.
Das Taxi bog vom
Marine Drive in schmalere, gewundene Straßen ein. Die drei lebenden Fahrgäste schlingerten
in den Kurven mit, und der tote Junge auf dem Beifahrersitz schien zum Leben zu
erwachen. Sein Kopf knallte gegen das Seitenfenster. Dann rutschte er nach vorn,
und sein Gesicht glitt von der Windschutzscheibe ab, so daß es ihn auf den Fahrer
schleuderte, der den Toten mit dem Ellbogen wegstieß. Die Hände des jungen Mannes
flogen nach oben
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