Zirkuskind
Wortwechsel über ein Wettgeschrei zu wilden Drohungen steigerte, die sich
(selbst auf tamilisch) für Nancy ziemlich schrecklich anhörten.
Bei den anscheinend
unbekümmerten Fahrgästen im Taxi des anderen Tamilen handelte es sich um ein gutgekleidetes
britisches Ehepaar Mitte Vierzig. Nancy vermutete, daß sie ebenfalls das Taj Mahal
ansteuerten und daß dieser Zufall die Ursache für den Streit zwischen den beiden
Tamilen war. (Dieter hatte sie vor dieser durchaus üblichen Unsitte gewarnt: Wenn
zwei Fahrer mit verschiedenen Fuhren dasselbe Ziel ansteuerten, versuchte natürlich
der eine, den anderen zu überreden, seine Fahrgäste auch noch mitzunehmen.)
An einer Ampel wurden
die beiden haltenden Taxis plötzlich von bellenden Hunden umringt – ausgehungerten
Kötern, die sich gegenseitig wegbissen –, und Nancy überlegte, daß sie, falls einer
sie durch das offene Fenster anspringen sollte, mit dem Dildo auf ihn einschlagen
könnte. Dieser flüchtige Gedanke bereitete sie vielleicht schon auf das vor, was
an der nächsten Kreuzung passierte, wo die Ampel sie erneut zum Halten zwang. Während
sie diesmal warteten, kamen statt der Hunde schlurfende Bettler auf sie zu. Die
schreienden Tamilen hatten ein paar Obdachlose angelockt, deren Körper sich unter
der hellen Kleidung als schwach erkennbare Hügel von den in Dunkelheit gehüllten
Straßen und Gebäuden abhoben. Als erster streckte ein Mann mit einem zerschlissenen,
dreckigen dhoti einen Arm durch Nancys Fenster.
Nancy bemerkte, daß das ordentliche britische Ehepaar – nicht aus Furcht, sondern
aus purer Hartnäckigkeit – die Fenster trotz der feuchten Hitze hochgekurbelt hatte.
Nancy hätte Angst gehabt zu ersticken, wenn sie ihres zumachte.
Dafür herrschte
sie ihren Fahrer an, endlich weiterzufahren! [328] Schließlich hatte die Ampel umgeschaltet.
Aber die beiden Tamilen waren zu sehr in ihre Auseinandersetzung vertieft, um auf
die Ampel zu achten. Der Fahrer ignorierte sie, und zu ihrem großen Ärger zwang
der andere Tamile jetzt seine britischen Fahrgäste, auszusteigen und zu Nancy ins
Taxi zu klettern, genau wie Dieter es vorausgesagt hatte.
Nancy schrie ihren
Fahrer an, der sich achselzuckend zu ihr umdrehte. Sie schrie aus dem Fenster den
anderen Tamilen an, der schrie zurück. Dem britischen Ehepaar schrie sie zu, sie
sollten sich nicht so übers Ohr hauen lassen, sondern von ihrem Fahrer verlangen,
daß er sie an das zuvor vereinbarte, im voraus bezahlte Ziel brachte.
»Lassen Sie sich
von diesem Bastard bloß nicht aufs Kreuz legen!« schrie Nancy. Erst da merkte sie,
daß sie den Dildo schwenkte; natürlich befand er sich noch in der Socke, und die
beiden konnten ja nicht wissen, daß es ein Dildo war. Wahrscheinlich hielten sie
sie einfach für eine hysterische junge Frau, die ihnen mit einer Socke drohte.
Nancy blieb nichts
anderes übrig, als das britische Ehepaar einsteigen zu lassen. Sie rutschte auf
die andere Seite des Rücksitzes und sagte: »Bitte, steigen Sie ein«, doch als sie
die Tür aufmachten, protestierte Nancys Fahrer. Er ließ das Auto sogar ein Stück
vorwärts rucken. Nancy klopfte ihm mit dem Dildo – nach wie vor in der Socke – auf
die Schulter. Er machte ein unbeteiligtes Gesicht. Sein Kollege stopfte bereits
das Gepäck des britischen Ehepaars in den Kofferraum, während sich die beiden auf
den Sitz neben Nancy zwängten.
Nancy wurde ans
Fenster gedrückt, als eine Bettlerin ein Baby zum Fenster hereinschob und es ihr
vors Gesicht hielt; das Kind roch ekelhaft, bewegte sich nicht und war völlig ausdruckslos
– es sah halb tot aus. Nancy hob den Dildo, aber was konnte sie schon tun? Wen sollte
sie schlagen? Statt dessen schrie sie die Frau an, die das Baby entrüstet aus dem
Taxi zog. [329] Vielleicht ist es gar nicht ihr Baby, überlegte Nancy; womöglich ist
es nur ein Baby, das die Leute zum Betteln benutzen. Vielleicht ist es ja nicht
einmal ein echtes Baby.
Vor ihnen stützten
zwei junge Männer einen betrunkenen oder mit Drogen vollgepumpten Kameraden. Sie
blieben beim Überqueren der Straße stehen, als wären sie nicht sicher, ob das Taxi
auch angehalten hatte. Aber das Taxi stand, und Nancy war wütend, daß ihr Fahrer
und der andere Tamile noch immer stritten. Sie beugte sich nach vorn und ließ den
Dildo auf den Nacken des Fahrers heruntersausen. In dem Augenblick flog die Socke
davon. Als sich der Fahrer zu ihr umdrehte, schlug sie ihm den riesigen Penis mitten
auf die Nase.
»Fahr
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