Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Vorteil, daß Inspektor Patel anhand der Antworten
feststellen konnte, wie es um die Moral des Befragten stand.
    In ihrem augenblicklichen
Zustand war Nancy anfällig für einen so ungewöhnlich korrekten und freundlich aussehenden
jungen Mann. Um Nancys Situation nachfühlen zu können, sei gesagt, daß Inspektor
Patel nicht so auftrat, daß ihm eine noch so unverfrorene oder extrem selbstbewußte
junge Frau freiwillig einen Dildo gezeigt hätte. Zudem war es ungefähr fünf Uhr
morgens. Mag sein, daß es ein paar ungeduldige Frühaufsteher gab, die den Sonnenaufgang
über dem Meer ankündigten, der – durch den perfekten Rahmen des geschwungenen Gateway
of India betrachtet – noch immer die bombastischen Tage der britischen Kolonialherrschaft
heraufbeschwören konnte, aber die arme Nancy gehörte nicht zu ihnen. Außerdem gestatteten
ihr das einzige Fenster und der kleine Balkon keinen Ausblick aufs Meer. Dieter
hatte ein relativ billiges Zimmer reservieren lassen.
    Unter ihr, im graubraunen
Licht, befand sich die übliche Ansammlung von Bettlern – vorwiegend Kinder, die
irgendwelche Kunststückchen vorführten. Für Reisende, die von weit her kamen und
denen die Zeitverschiebung noch zu schaffen machte, waren diese Straßenkinder am
frühen Morgen der erste Berührungspunkt mit Indien bei Tageslicht. Nancy saß im
Bademantel am Fußende ihres Bettes, der Inspektor auf dem einzigen Stuhl, auf dem
sich keine Kleidungsstücke und Taschen türmten. Beide konnten Nancys Badewasser
auslaufen hören. Deutlich sichtbar, wie Dieter ihr empfohlen hatte, lagen der abgenutzt
aussehende, aber unbenutzte Reiseführer und der ungelesene Roman von Lawrence Durrell
herum.
    Es sei nicht ungewöhnlich,
erklärte der Inspektor, daß Leute umgebracht und dann vor ein fahrendes Auto gestoßen
würden. Ungewöhnlich an diesem Fall sei, daß der Schwindel so offensichtlich war.
    [335]  »Für mich nicht«,
sagte Nancy. Sie erklärte ihm, daß sie den Augenblick des Aufpralls nicht gesehen
hatte; sie dachte, alle drei wären angefahren worden – wahrscheinlich weil sie die
Augen zugemacht hatte.
    Die Engländerin
hatte den Augenblick des Aufpralls auch nicht gesehen, ließ Inspektor Patel Nancy
wissen. »Sie hat Sie angeschaut«, erläuterte der Polizist.
    »Oh, verstehe«,
sagte Nancy.
    Der Engländer sei
ganz sicher, daß ein Körper – in jedem Fall bewußtlos, wenn nicht gar tot – vor
den Kühler des fahrenden Autos gestoßen worden sei. »Und der Taxifahrer weiß nicht,
was er gesehen hat«, sagte Inspektor Patel. »Der Tamile erzählt jedesmal eine andere
Geschichte.« Als Nancy ihn noch immer ausdruckslos ansah, fügte er hinzu: »Der Fahrer
sagt, er sei abgelenkt worden.«
    »Wodurch?« fragte
Nancy, obwohl sie es genau wußte.
    »Durch das, womit
sie ihn geschlagen haben«, antwortete Inspektor Patel.
    Es entstand eine
unbehagliche Pause, in der der Polizist seinen Blick von einem Stuhl zum nächsten
wandern ließ, die ausgepackten Taschen betrachtete, die zwei Bücher, die Kleidungsstücke.
Nach Nancys Schätzung war er mindestens fünf Jahre älter als sie, obwohl er jünger
aussah. Seine Selbstsicherheit ließ ihn entwaffnend erwachsen wirken. Trotzdem legte
er nicht die übertriebene Arroganz eines Bullen an den Tag. Inspektor Patel trat
nicht großspurig auf; seine beherrschte und gewählte Art hing damit zusammen, daß
er einen absolut korrekten Zweck verfolgte. Nancy empfand ihn als einen grundguten
Menschen und war von ihm fasziniert. Und seine Haut, die die Farbe von Milchkaffee
hatte, fand sie wunderschön. Er hatte pechschwarze Haare und einen so schmalen,
perfekt abgezirkelten Schnauzer, daß Nancy ihn gern berührt hätte.
    Dieser rundum schmucke
Eindruck des jungen Mannes stand [336]  in deutlich erkennbarem Gegensatz zu der mangelnden
Eitelkeit, die sich normalerweise an glücklich verheirateten Männern beobachten
läßt. Hier im Taj Mahal, in Anwesenheit einer derart drallen Blondine im Bademantel,
war Inspektor Patel deutlich anzumerken, daß er ledig war. Er achtete ebenso sorgfältig
auf die Einzelheiten seines Auftretens wie auf jeden Zentimeter an Nancy und auf
alles, was ihm Nancys Zimmer möglicherweise verraten würde. Ihr war nicht klar,
daß er nach dem Dildo Ausschau hielt.
    »Kann ich das Ding
sehen, mit dem Sie den Taxifahrer geschlagen haben?« fragte der Inspektor schließlich.
Der Himmel mochte wissen, wie der idiotische Tamile den Dildo beschrieben hatte.
Nancy stand auf, um ihn aus dem

Weitere Kostenlose Bücher