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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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sie aussahen
wie bei kleinen Jungen.
    Dieter ließ sich
gern über sexuelle Themen aus und benutzte die halbherzige Hoffnung, Rahul in Bombay
ausfindig zu machen, als Vorwand dafür, Nancy den Rotlichtbezirk zu zeigen. Sie
wollte nicht mitgehen, aber Dieter war offenbar dafür prädestiniert, getreu der
alten Maxime zu leben, daß Erniedrigung wenigstens etwas Greifbares ist. Entwürdigung
ist etwas Konkretes. Sexuelle Verderbtheit hat etwas Präzises, das auf Dieter im
Vergleich zu der vagen Suche nach Rahul wahrscheinlich tröstlich wirkte.
    [359]  Nancy empfand
die feuchte Hitze und den durchdringenden Geruch Bombays in unmittelbarer Nähe der
Käfigmädchen in der Falkland Road noch viel intensiver. »Sind sie nicht erstaunlich?«
wollte Dieter von ihr wissen. Aber warum sie »erstaunlich« waren, entging Nancy.
Im Erdgeschoß der alten Holzgebäude gab es käfigähnliche Verschläge, in denen Mädchen
saßen und einen heranwinkten. In den nur vier oder fünf Stockwerken darüber standen
noch mehr Mädchen an den offenen Fenstern – und wenn ein Vorhang zugezogen war,
bedeutete das, daß die betreffende Prostituierte einen Kunden hatte.
    Nancy und Dieter
tranken im Olympia an der Falkland Road Tee. Es war ein altes Café mit verspiegelten
Wänden, das von den Straßendirnen und ihren Zuhältern frequentiert wurde; ein paar
von ihnen kannte Dieter offenbar. Aber diese Kontaktpersonen konnten oder wollten
sich nicht über Rahuls Aufenthaltsort äußern; sie wollten nicht einmal über Rahul
reden, sondern bemerkten lediglich, er gehöre zur Transvestitenszene, mit der sie
nichts zu tun haben wollten.
    »Habe ich dir nicht
gesagt, daß er eines von diesen Gänschen mit Schwänzchen ist?« sagte Dieter zu Nancy.
Es dämmerte bereits, als sie das Café verließen; die Käfigmädchen zeigten ein aggressives
Interesse an Nancy, als sie mit Dieter an ihnen vorbeiging. Einige von ihnen hoben
ihren Rock hoch und machten obszöne Gesten, andere bewarfen sie mit Abfall, und
plötzlich auftauchende Trauben von Männern umringten sie auf der Straße. Dieter
scheuchte sie, geradezu lässig, von ihr weg. Ihn schien die Aufmerksamkeit, die
Nancy erregte, zu amüsieren; je vulgärere Formen sie annahm, um so mehr amüsierte
sich Dieter.
    Nancy war zu überwältigt
gewesen, um ihm Fragen zu stellen; erst jetzt (während sie sich tiefer in Dr. Daruwallas
Badewanne sinken ließ) erkannte sie, daß es sich dabei um ein festes Verhaltensmuster
handelte, das sie endlich durchbrochen hatte. [360]  Sie tauchte den Dildo unter und
hielt ihn an ihren Bauch. Da er nicht wieder mit Wachs versiegelt worden war, bildeten
sich Bläschen. Aus Angst, das Geld könnte naß werden, hörte Nancyauf, mit dem Ding
herumzuspielen. Statt dessen dachte sie an den Pionierspaten in ihrem Rucksack;
sicher hatte der Doktor ihn zuvor klirren gehört.
    Dieter hatte ihn
in einem Geschäft mit Armeebeständen in Bombay gekauft. Er war olivgrün. Vollständig
ausgeklappt war es ein normaler Spaten mit einem kurzen, zweiseitigen Griff, der
sich mit Hilfe eines eisernen Hakens einklappen ließ; und das Spatenblatt ließ sich
im rechten Winkel zum Griff drehen, so daß es einer etwa dreißig Zentimeter langen
Hacke ähnelte. Wäre Dieter noch am Leben gewesen, hätte er als erster zugegeben,
daß er sich auch hervorragend als Tomahawk eignete. Er hatte Nancy erklärt, dieses
Werkzeug könnte sich in Goa als nützlich erweisen, sowohl um sich gegen die einheimischen
Banditen zu verteidigen, die dort gelegentlich Hippies überfielen, als auch um bei
Bedarf eine Latrine zu graben. Nancy lächelte wehmütig, als sie über die vielfältigen
Verwendungsmöglichkeiten dieses Geräts nachdachte. Zweifellos hatte es sich auch
als geeignet erwiesen, um für Dieter ein Grab zu schaufeln.
    Als sie die Augen
schloß und sich tiefer in die Wanne sinken ließ, glaubte sie noch immer den süßen,
rauchigen Tee zu schmecken, der im Olympia serviert wurde. Auch an seinen trockenen,
bitteren Nachgeschmack erinnerte sie sich. Mit geschlossenen Augen und eingebettet
in das warme Wasser dachte sie sich an ihren wechselnden, von den narbigen Spiegeln
des Cafés zurückgeworfenen Gesichtsausdruck. Der Tee hatte sie benommen gemacht.
Der rote Speichel, den man vom Kauen der Betelnüsse bekam und den die Leute ringsum
ausspuckten, war neu für sie, und aus der Jukebox dröhnten Songs aus Hindifilmen
und Qawwali. Trotzdem war sie unvorbereitet auf den dröhnenden Lärm, der sie draußen
auf

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