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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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der Falkland Road überfiel. Ein [361]  Betrunkener folgte ihr und zog sie an den
Haaren, bis Dieter ihn zu Boden schlug und ihm in die Seite trat.
    »Die besseren Bordelle
befinden sich in den Zimmern über den Käfigen«, erklärte ihr Dieter, um seine Kenntnisse
zu demonstrieren. Ein Junge mit einem wassergefüllten Ziegenschlauch stieß mit Nancy
zusammen; sie war überzeugt, daß er ihr auf den Fuß hatte treten wollen. Jemand
zwickte sie in die Brust, ohne daß sie gesehen hätte, wer es war – ob Mann, Frau
oder Kind.
    Dieter zog sie in
einen bidi -Laden, in dem es auch Schreibwaren,
billigen Silberschmuck und die kleinen Pfeifen zu kaufen gab, in denen man Ganja
rauchte. »Hey, Ganja-man – Mistah Bhang-Master!« wurde Dieter vom Inhaber begrüßt.
    Er lächelte Nancy
glücklich an, während er auf Dieter deutete. »Er Mistah Bhang-Master, er allerbester
Ganja-man!« sagte er anerkennend.
    Nancy spielte mit
einem ungewöhnlichen Kugelschreiber herum. Er war aus echtem Silber, und in Schreibschrift
war der Länge nach MADE IN INDIA eingraviert. Auf dem unteren Teil stand MADE IN , auf der Kappe INDIA . Der Stift war nicht fest verschlossen,
wenn sich der Schriftzug nicht genau auf einer Linie befand. Nancy hielt das für
eine alberne Marotte. Und wenn man damit schrieb, geriet alles durcheinander; dann
lautete die Aufschrift IN MADE INDIA, wobei IN MADE auf dem Kopf stand. »Ganz beste Qualität«, sagte der Ladeninhaber zu ihr. »Made
in England!«
    »Da steht aber ›Made
in India‹« sagte Nancy.
    »Ja, in Indien wird
auch gemacht!« pflichtete ihr der Mann bei.
    »Sie sind ein beschissener
Lügner«, sagte Dieter zu ihm, aber er kaufte Nancy den Kugelschreiber.
    Nancy überlegte,
daß sie sich gern an einen kühlen Ort setzen und Postkarten schreiben würde. Wären
die daheim in Iowa [362]  nicht überrascht, wenn sie erführen, wo sie war? Doch gleichzeitig
dachte sie: Die werden nie mehr von mir hören. Bombay erschreckte und erregte sie
zugleich. Es war so fremd und scheinbar anarchisch, daß Nancy das Gefühl hatte,
sein zu können, wer immer sie sein wollte. Sie strebte nach Unbescholtenheit, nach
einer Art weißer Weste, und im Hinterkopf hatte sie, hartnäckig und dauerhaft, dieses
unerreichbare Ziel der Reinheit, das Inspektor Patel für sie verkörperte.
    In der übertrieben
dramatischen Art vieler gefallener junger Frauen glaubte Nancy, daß ihr nur zwei
Wege offenstanden: Entweder fiel sie weiterhin, bis ihr die Beschmutzung ihrer Person
gleichgültig war, oder sie strebte danach, derart grandiose, Selbstaufopferung fordernde,
menschenfreundliche Taten zu vollbringen, daß sie ihre Unschuld zurückgewinnen und
alles wiedergutmachen konnte. In der Welt, in die sie hinabgestiegen war, gab es
nur folgende Alternativen: bei Dieter zu bleiben oder zu Inspektor Patel zu gehen.
Aber was hatte sie Vijay schon zu bieten? Nichts, was der brave Polizist wollte,
befürchtete Nancy.
    Später, im Eingang
zu einem Transvestitenbordell, entblößte sich ein hijra so plötzlich und dreist, daß Nancy
keine Zeit blieb, wegzuschauen. Selbst Dieter mußte zugeben, daß nichts auf einen
Penis hindeutete – nicht einmal auf einen kleinen. Was da eigentlich war, konnte
Nancy nicht mit Gewißheit sagen. Dieter meinte, daß Rahul womöglich einer von dieser
Sorte war – »eine Art radikaler Eunuch«, wie er es ausdrückte.
    Aber Dieters Fragen
nach Rahul stießen auf mürrisches Schweigen, wenn nicht gar Feindseligkeit. Der
einzige hijra, der ihnen erlaubte, in seinen Käfig
zu kommen, war ein hektischer Transvestit in mittleren Jahren, der vor einem Spiegel
saß und mit wachsender Enttäuschung seine Perücke betrachtete. In demselben winzigen
Raum fütterte ein jüngerer hijra ein neugeborenes Zicklein mit wäßriger grauer Milch aus einer Babyflasche.
    [363]  Zum Thema Rahul
sage der hijra lediglich: »Er ist keiner von uns.«
Der Ältere räumte nur ein, daß sich Rahul in Goa aufhielt. Keiner von beiden ließ
sich auf ein Gespräch über Rahuls Spitznamen ein. Bei der bloßen Erwähnung von »Pretty«
zog der, der die Ziege fütterte, ihr die Milchflasche abrupt aus dem Maul. Plopp!
machte es, und die Ziege meckerte erstaunt. Der jüngere hijra deutete mit dem Fläschchen auf Nancy
und machte eine verächtliche Geste. Nancy interpretierte sie dahingehend, daß sie
nicht so hübsch war wie Rahul. Sie war erleichtert, daß Dieter offenbar keine Lust
hatte, sich zu prügeln, obwohl sie spürte, daß er wütend

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