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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zunächst etwas aus der Fassung; es machte sich in den Kurven gefährlich
bemerkbar, so daß er sein Tempo drosselte.
    »Kann dieses Ding
denn nicht schneller fahren?« fragte sie ihn. Er verstand sie nur halb, oder vielleicht
fand er die Stimme an seinem Ohr auch aufregend; möglicherweise war ihm gar nicht
ihr Hinken aufgefallen, sondern die engen Jeans oder das blonde Haar – oder gar
ihre wiegenden Brüste, die sich jetzt an seinen Rücken drückten. »Schon besser«,
meinte Nancy, als er es wagte, schneller zu fahren. Die roten Plastiktroddeln wurden
vom Fahrtwind nach hinten gepeitscht, so daß es Nancy vorkam, als wollten sie sie
zur Anlegestelle des Dampfers und zu ihrem selbstgewählten Schicksal nach Bombay
winken.
    Sie hatte sich auf
das Böse eingelassen, aber es hatte sich nicht bewährt. Sie war eine Sünderin auf
der Suche nach der unmöglichen Erlösung. Nur der lautere und unbestechliche Polizeibeamte,
so glaubte sie, könnte ihren guten Kern wiederherstellen. Sie hatte etwas Widersprüchliches
an Inspektor Patel entdeckt. Sie hielt ihn für tugendhaft und ehrenwert, war aber
gleichzeitig davon überzeugt, daß es ihr gelingen würde, ihn zu verführen. Ihrer
eigenen Logik folgend, ging sie davon aus, daß sich seine Tugend und Ehrbarkeit
auf sie übertragen ließen. Nancys Illusion war nicht ungewöhnlich – und beschränkte
sich auch nicht [395]  auf Frauen. Es ist ein alter Glaube, daß mehrere, in sexueller
Hinsicht falsche Entscheidungen durch eine richtige wiedergutgemacht – ja sogar
völlig getilgt – werden können. Man darf Nancy keinen Vorwurf daraus machen, daß
sie es versucht hat.
    Während Nancy auf
der Yezdi zur Fähre und damit ihrem Schicksal entgegenfuhr, weckte ein dumpfer,
aber hartnäckiger Schmerz in der großen Zehe des rechten Fußes Dr. Daruwalla aus
seinen wirren Träumen und nächtlichen Verdauungsstörungen. Er befreite sich von
dem Moskitonetz und schwang die Beine aus der Hängematte, doch sobald er auch nur
leicht mit dem rechten Fuß auftrat, verspürte er in der großen Zehe einen stechenden
Schmerz. Einen Augenblick lang meinte er, noch zu träumen, er sei der Leichnam des
heiligen Franz Xaver. In dem gedämpften, braunen Licht des frühen Morgens – durchaus
vergleichbar mit seiner Hautfarbe – inspizierte der Doktor seine Zehe. Die Haut
war unverletzt, aber ausgeprägte, karmesinrot bis violett gefärbte Blutergüsse zeigten
deutlich die Bißstellen an. Dr. Daruwalla schrie auf.
    »Julia! Ich bin
von einem Geist gebissen worden!« Seine Frau kam angerannt.
    »Was ist denn los,
Liebchen?« fragte sie ihn.
    »Sieh dir meine
große Zehe an!« verlangte der Doktor.
    »Hast du dich in
den großen Zeh gebissen?« fragte ihn Julia mit unverhohlenem Abscheu.
    »Es ist ein Wunder!«
schrie Dr. Daruwalla. »Es war der Geist dieser Verrückten, die den heiligen Franz
Xaver gebissen hat!«
    »Red nicht so blasphemisch
daher«, rügte ihn Julia.
    »Ich bin nicht blasphemisch,
ich bin gläubig!« rief der Doktor. Er versuchte mit dem rechten Fuß aufzutreten,
aber der Schmerz in seiner großen Zehe war so überwältigend, daß er schreiend auf
die Knie sank.
    »Still, sonst weckst
du die Kinder. Du weckst noch das ganze Haus auf!« schimpfte Julia.
    [396]  »Gelobt sei Gott«,
flüsterte Farrokh, während er in seine Hängematte zurückkroch. »Ich glaube an Dich,
Gott, bitte quäle mich nicht noch mehr!« Er ließ sich in die Hängematte fallen,
wo er beide Arme um seinen Leib schlang. »Was ist, wenn sie kommen, um meinen Arm
zu holen?« fragte er seine Frau.
    Julia fand ihn widerlich.
»Sicher hast du was gegessen, was dir nicht bekommen ist«, sagte sie. »Oder du hast
von dem Dildo geträumt.«
    »Du hast vermutlich davon geträumt«,
sagte Farrokh verdrossen. »Ich habe so etwas wie eine Bekehrung erlebt, und du denkst
an einen Riesenschwanz!«
    »Ich denke nur,
daß du dich höchst eigenartig benimmst«, entgegnete Julia.
    »Aber ich habe eine
Art religiöse Offenbarung gehabt!« beharrte Farrokh.
    »Ich sehe nicht,
was daran religiös sein soll«, meinte Julia.
    »Schau dir meine
Zehe an!« rief der Doktor.
    »Vielleicht hast
du im Schlaf hineingebissen«, mutmaßte seine Frau.
    »Julia!« sagte Dr. Daruwalla. »Ich dachte, du bist bereits Christin.«
    »Deshalb schreie
und stöhne ich doch nicht in der Gegend herum«, sagte Julia.
    John D. erschien
auf dem Balkon, freilich ohne zu begreifen, daß Dr. Daruwallas religiöse Offenbarung
um ein Haar seine –

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