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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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freilich anders geartete – Offenbarung gewesen wäre.
    »Was ist denn los?«
fragte der junge Mann.
    »Offenbar ist es
gefährlich, auf dem Balkon zu schlafen«, erklärte ihm Julia. »Farrokh ist gebissen
worden, vielleicht von irgendeinem Tier.«
    »Das sind Abdrücke
von menschlichen Zähnen!« verkündete der Doktor. John D. untersuchte die gebissene
Zehe mit der ihm eigenen Distanziertheit.
    [397]  »Vielleicht war
es ein Affe«, sagte er.
    Dr. Daruwalla rollte
sich in seiner Hängematte zusammen. Er beschloß, seine Frau und den geliebten jungen
Mann mit Stillschweigen zu strafen. Julia und John D. frühstückten mit den Töchtern
Daruwalla im Hof unter dem Balkon. Ab und zu ließen sie ihre Blicke an der Kletterpflanze
nach oben wandern, wo Farrokh vermutlich noch immer lag und schmollte. Aber da irrten
sie sich. Er schmollte nicht – er betete. Da der Doktor im Beten ungeübt war, ähnelte
sein Gebet einem inneren Monolog, der einem ziemlich klassischen Bekenntnis gleichkam
– jener Sorte Bekenntnis, die durch einen schlimmen Kater hervorgerufen wird.
    O
Gott! betete
Dr. Daruwalla. Es ist nicht nötig, mir meinen Arm zu nehmen – die Zehe hat mich
überzeugt. Ich muß nicht noch mehr überzeugt werden. Du hast mich auf Anhieb für
Dich gewonnen, Gott. Der
Doktor hielt inne. Bitte laß meinen Arm in Frieden, fügte er hinzu.
    Später glaubte der
syphilitische Teekellner in der Eingangshalle des Hotel Bardez Stimmen vom Balkon
der Daruwallas im zweiten Stock zu hören. Da bekannt war, daß Ali Ahmed fast völlig
taub war, ging seine Umgebung davon aus, daß er wahrscheinlich immer »Stimmen« hörte.
Aber er hatte Dr. Daruwalla wirklich beten gehört, denn im Laufe des Vormittags
nahm das Gemurmel des Doktors an Lautstärke zu, bis sich die Tonhöhe seiner Gebete
genau in einem Frequenzbereich bewegte, den der syphilitische Teekellner hören konnte.
    »Es tut mir von
Herzen leid, wenn ich Dich beleidigt habe, Gott!« betete Dr. Daruwalla. »Es tut
mir von Herzen leid, zutiefst leid, wirklich!« murmelte der Doktor inbrünstig. »Ich
hatte nie die Absicht, jemanden zu verspotten… ich habe nur Spaß gemacht«, gestand
Farrokh. »Du auch, heiliger Franz Xaver, bitte vergib auch du mir!« Inzwischen begannen
ungewöhnlich viele Hunde zu bellen, weil sich Farrokhs Tonhöhe [398]  beim Beten genau
in einem Frequenzbereich bewegte, den auch Hunde hören konnten. »Ich bin Chirurg,
Gott«, stöhnte der Doktor. »Ich brauche meinen Arm, meine beiden Arme!« So kam es,
daß Dr. Daruwalla hartnäckig in der Hängematte blieb, in der seine wundersame Bekehrung
stattgefunden hatte, während Julia und John D. den Morgen damit verbrachten zu überlegen,
wie sie den Doktor davon abbringen konnten, noch eine Nacht auf dem Balkon zu schlafen.
    Als sein Kater im
Lauf des Tages nachließ, gewann Farrokh wieder ein bißchen Selbstvertrauen zurück.
Er sagte zu Julia, er hielte es für ausreichend, Christ zu werden. Er brauchte ja
nicht unbedingt gleich Katholik zu werden, oder? Ob Julia meinte, daß es genügen
würde, Protestant zu werden? Vielleicht reichte ja auch Anglikaner. Inzwischen fand
Julia die tiefen und völlig verfärbten Bißstellen an der Zehe ihres Mannes ziemlich
beängstigend. Obwohl die Haut unverletzt war, hatte sie Angst vor Tollwut.
    »Julia!« beschwerte
sich Farrokh. »Ich mache mir hier Sorgen um meine sterbliche Seele, und du machst
dir Sorgen um Tollwut!«
    »Viele Affen haben
Tollwut«, meinte John D.
    »Welche Affen?«
schrie Dr. Daruwalla. »Ich sehe hier keine Affen! Habt ihr irgendwo Affen gesehen?«
    Während sie sich
anfauchten, entging ihnen, daß Promila Rai und ihr Neffe-mit-Brüsten abreisten.
Sie fuhren nach Bombay zurück, allerdings noch nicht an diesem Abend. Nancy hatte
wieder Glück: Rahul würde nicht dieselbe Fähre nehmen. Promila wußte, daß Rahul
von seinem Urlaub enttäuscht war, und hatte deshalb eine Einladung von Bekannten
angenommen, in deren Villa in Alt-Goa zu übernachten. Dort sollte ein Kostümfest
stattfinden, das Rahul ja vielleicht Spaß machen würde.
    Der Urlaub war für
Rahul nicht nur enttäuschend gewesen. Seine Tante war großzügig mit ihrem Geld,
erwartete aber [399]  trotzdem, daß er zu dem Aufenthalt in London, an dem ihm soviel
lag, einen eigenen Beitrag leistete. Promila wollte Rahul zwar finanziell unter
die Arme greifen, aber ein bißchen Geld mußte er schon selbst beisteuern. Dieters
Geldgürtel hatte mehrere tausend Mark enthalten, doch

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