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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Farrokhs Augen hingegen hatten diese Zirkuskinder
Glück gehabt – sie waren gerettet worden.
    Dr. Daruwalla wußte,
daß die meisten dieser Kinderartisten (wie Deepa) von ihren Eltern, die sie nicht
ernähren konnten, an [55]  den Zirkus verkauft worden waren; andere waren Waisenkinder
– sie waren wirklich adoptiert worden. Wären sie nicht im Zirkus aufgetreten, wo
sie beschützt und gut ernährt wurden, hätten sie betteln gehen müssen. Sie wären
Straßenkinder geworden wie die vielen anderen, die man für ein paar Rupien überall
Handstände und andere Kunststückchen machen sah – in Bombay genauso wie in allen
kleineren Städten Gujarats und Maharashtras, in denen jetzt auch der Great Royal
Circus häufiger auftrat, da heutzutage nicht mehr so viele Zirkusse nach Bombay
kommen. Während des Lichterfestes Diwali und in den Winterferien gastieren noch
immer zwei oder drei Zirkusse in der Stadt oder in der Umgebung, aber Fernsehen
und Video haben dem Zirkusgeschäft geschadet; zu viele Leute leihen sich Filme aus
und bleiben zu Hause.
    Wenn man Dr. Daruwallas
Kinder und Enkelkinder so reden hörte, wurde den an den Zirkus verkauften Kinderartisten
jahrelange Kinderarbeit in einem äußerst riskanten Beruf zugemutet; ihr von harter
Arbeit geprägtes, unentrinnbares Dasein war für sie gleichbedeutend mit Sklaverei.
Nicht ausgebildeten Kindern wurde sechs Monate lang gar nichts gezahlt. Danach fingen
sie mit einem Lohn von drei Rupien pro Tag an – nur neunzig Rupien im Monat, weniger
als vier Dollar! Doch Dr. Daruwalla führte ins Feld, daß regelmäßiges Essen und
ein sicherer Platz zum Schlafen besser waren als nichts; immerhin bekamen diese
Kinder eine Chance.
    Die Zirkusleute
kochten ihr Wasser und ihre Milch selbst ab. Sie kauften ihr eigenes Essen ein und
bereiteten es selbst zu. Sie gruben ihre eigenen Latrinen und hielten sie sauber.
Ein erfolgreicher Artist bekam oft fünf- oder sechshundert Rupien im Monat, auch
wenn das nur fünfundzwanzig Dollar waren. Zugegeben, auch wenn sich der Great Royal
gut um seine Kinder kümmerte, konnte Farrokh nicht mit Sicherheit behaupten, daß
die Kinder in allen indischen Zirkussen so gut behandelt [56]  wurden. Die Darbietungen
einiger dieser Zirkusse waren so jämmerlich – von Ungeschick und Fahrlässigkeit
ganz zu schweigen –, daß der Doktor davon ausging, daß dort auch das Zeltleben armseliger
war.
    Im Great Blue Nile
war das Leben ganz bestimmt armselig, denn unter den Great-Sowieso-Zirkussen Indiens
war der Great Blue Nile der armseligste – oder zumindest der, der am wenigsten great war. Deepa hätte das bestätigt.
Der Frau des Zwergs, einem ehemaligen Schlangenmädchen, das als Trapezkünstlerin
wiedergeboren wurde, fehlte es sowohl an Schliff als auch an gesundem Menschenverstand.
Es lag nicht nur am Bier, daß sie den Trapezholm zu früh losgelassen hatte.
    Deepas Verletzungen
waren kompliziert, aber nicht schwerwiegend. Sie hatte sich nicht nur das Hüftgelenk
ausgerenkt, sondern auch noch das Transversalband gerissen. Dr. Daruwalla würde
Deepas Hüfte nicht nur eine denkwürdige Narbe verpassen, sondern bei der Vorbereitung
des Operationsfeldes auch mit der unwiderlegbaren Schwärze ihres Schamhaars konfrontiert
werden; und das würde die Erinnerung an die beunruhigende Begegnung zwischen dem
Schambein der Frau des Zwergs und dem Nasenrücken des Doktors wachrufen.
    Farrokhs Nase kribbelte
noch immer, als er Deepa ins Krankenhaus begleitete, um ihr bei den Formalitäten
behilflich zu sein; natürlich fühlte er sich schuldig. Aber die Aufnahmeprozedur
hatte noch kaum begonnen, als sich eine Kliniksekretärin beim Doktor meldete. Jemand
hatte vom Blue Nile für ihn angerufen, während er auf dem Weg ins Krankenhaus war.
    »Kennen Sie irgendwelche
Clowns?« fragte ihn die Sekretärin.
    »Na ja, Tatsache
ist… ja«, gab Farrokh zu.
    »Zwergclowns?« fragte
die Sekretärin.
    »Ja, mehrere! Ich
habe sie gerade erst kennengelernt«, fügte [57]  der Doktor hinzu. Farrokh genierte
sich zuzugeben, daß er ihnen auch gerade erst Blut abgezapft hatte.
    »Offenbar hat sich
einer von ihnen in diesem Zirkus auf dem Cross Maidan verletzt«, erklärte die Sekretärin.
    »Doch nicht Vinod!«
rief Dr. Daruwalla.
    »Ja, genau der«,
sagte die Sekretärin. »Deshalb sollen Sie in den Zirkus zurückkommen.«
    »Was ist denn passiert?«
fragte Dr. Daruwalla die etwas hochmütige Sekretärin, die, wie viele ihrer Kolleginnen
im medizinischen Bereich,

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