Zirkuskind
Gonzaga gewesen, diesem leidenschaftlichen Italiener, der von so inbrünstiger
Keuschheit war, daß er [442] sich weigerte, seine eigene Mutter anzusehen, nachdem
er seine feierlichen Gelübde abgelegt hatte.
Er war Martin Mills’
Lieblingsbeispiel für die sogenannte »Bewahrung der Sinne«, die jeder Jesuit zu
erreichen trachtete. Für Martin war allein schon die Vorstellung, die eigene Mutter
nie mehr ansehen zu müssen, etwas Wunderbares. Immerhin war seine Mutter Veronica
Rose, und wenn er sich sogar zum Abschied einen Blick auf sie versagte, würde das
seiner jesuitischen Zielsetzung, nämlich seine Stimme, seinen Körper und seine Neugier
im Zaum zu halten, sicher zugute kommen. Martin Mills hielt sich ganz enorm im Zaum,
und sowohl seine frommen Absichten als auch die Lebenserfahrungen, die ihn noch
darin bestärkt hatten, waren von sehr viel mehr fanatischem Eifer durchdrungen,
als Pater Julian hätte erahnen können.
Und jetzt hatte
Frater Gabriel, der fünfundsiebzig Jahre alte Ikonensammler, den Brief des Scholastikers
verloren. Wenn niemand wußte, wann der neue Missionar eintreffen würde, wie konnten
sie ihn dann vom Flugplatz abholen?
»Immerhin sieht
es so aus«, meinte Pater Julian, »als würde unser Martin Herausforderungen mögen.«
Pater Cecil fand
das recht grausam vom Pater Rektor. Daß Martin Mills um diese nachtschlafende Zeit,
zu der alle Flüge aus Übersee auf dem Flughafen Sahar landeten, in Bombay ankam
und dann ganz allein den Weg zur Missionsstation finden mußte, die bis zur Frühmesse
zugesperrt und buchstäblich unzugänglich blieb, war bestimmt eine härtere Prüfung
als jede Wallfahrt, die der Missionar bisher unternommen hatte.
»Schließlich«, sagte
Pater Julian mit dem für ihn typischen Sarkasmus, »ist es dem heiligen Ignatius
von Loyola auch gelungen, den Weg nach Jerusalem zu finden. Ihn hat auch niemand
am Flughafen abgeholt.«
Pater Cecil fand
das unfair. Und deshalb hatte er Dr. Daruwalla angerufen, um ihn zu fragen, ob er
wüßte, wann Martin [443] Mills ankommen sollte. Aber er hatte nur den Anrufbeantworter
erreicht, und Dr. Daruwalla hatte ihn nicht zurückgerufen. Und so betete Pater Cecil
für Martin Mills im allgemeinen, und im besonderen betete er darum, daß die erste
Begegnung des Missionars mit dieser Stadt nicht allzu traumatisch ausfallen möge.
Frater Gabriel betete
ebenfalls für Martin Mills im allgemeinen. Im besonderen betete er, er möge den
verlorenen Brief des Scholastikers vielleicht doch noch finden. Aber der Brief blieb
verschwunden. Während sich Dr. Daruwalla das Gehirn zermarterte, um auf den Filmstar
zu kommen, der der zweitenMrs. Dogar ähnelte, und lange bevor er endlich in den
Schlaf hinüberglitt, gab Frater Gabriel die Suche nach dem Brief auf, ging zu Bett
und schlief auch bald ein. Während Vinod Muriel nach Hause fuhr – genauer gesagt,
während er und die Schönheitstänzerin Betrachtungen über die üble Klientel des Wetness
Cabaret anstellten –, beendete Pater Cecil seine Gebete und schlief ebenfalls ein.
Und kurz nachdem Vinod bemerkt hatte, daß der Film Inspector Dhar und die Türme des
Schweigens auf
die schlafende Stadt losgelassen wurde, sperrte Pater Julian die Klosterpforte,
das Einfahrtstor für den Schulbus und den Eingang zur St. Ignatius-Kirche zu. Wenig
später schlief auch der Pater Rektor tief und fest.
Erste Anzeichen für eine Verwechslung
Ungefähr
um zwei Uhr morgens – um dieselbe Zeit, zu der die Plakatkleber in ganz Bombay die
Werbeplakate für den neuen Inspector-Dhar-Film anschlugen und Vinod gemächlich an
den Bordellen von Kamathipura vorbeifuhr – landete das Flugzeug mit Dhars Zwillingsbruder
an Bord wohlbehalten in Sahar. Dhar schlief in diesem Augenblick auf Dr. Daruwallas
Balkon.
Doch der Zollbeamte,
dessen Blick zwischen der [444] angestrengten Miene des frischgebackenen Missionars
und dessen absolut nichtssagendem Paßfoto hin und her wanderte, war überzeugt, daß
er Inspector Dhar Aug in Auge gegenüberstand. Das Hawaiihemd war eine gelinde Überraschung,
weil sich der Zollbeamte nicht vorstellen konnte, warum Dhar versuchen sollte, sich
als Tourist zu tarnen. Auch daß er sich den für ihn typischen Schnauzbart abrasiert
hatte, trug wenig zu einer erfolgreichen Verkleidung bei, denn sein unnachahmliches
Hohnlächeln wurde durch die glatte Oberlippe eher noch betont.
Er hatte einen amerikanischen
Paß – schlau! dachte der Zollbeamte –, in dem jedoch vermerkt war,
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