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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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dieses Schmerzes. Es war weder ein so exquisiter, noch ein
so unausgesetzter Schmerz wie der, den das [449]  Beineisen verursachte, wenn man es
richtig fest um den Oberschenkel legte; es war kein so plötzlicher oder atemraubender
Schmerz wie die Peitsche auf dem nackten Rücken. Und doch war ihm der Schmerz, den
ihm der Koffer bereitete, herzlich willkommen. Der Koffer selbst erinnerte Martin
Mills an die Pflicht, sich unablässig weiterzuentwickeln, an die Aufgabe, Gottes
Willen zu ergründen, und an die Kraft seiner Selbstverleugnung. Denn eingeprägt
in das alte Leder war das lateinische Wort Nostris (»Den Unsrigen«) – womit »Uns Jesuiten«
gemeint war, wie die Angehörigen der Gesellschaft Jesu sich selbst bezeichneten.
    Der Koffer rief
Martin sein zweijähriges Noviziat in St. Aloysius ins Gedächtnis. In seinem Zimmer
hatte es nur einen Tisch, einen Stuhl mit gerader Lehne, ein Bett und einen fünf
Zentimeter hohen, hölzernen Betschemel gegeben. Während seine Lippen das Wort Nostris formten, dachte er an das Glöckchen
zurück, das die flagellatio , die Stunde der Geißelung, anzeigte, und erinnerte sich an die
dreißig Tage seiner ersten in Schweigen verbrachten Exerzitien. Er schöpfte noch
immer Kraft aus diesen zwei Jahren: beten, rasieren, arbeiten, schweigen, studieren,
beten. Bei ihm war das kein Anfall von Frömmigkeit, sondern die ordnungsgemäße Unterwerfung
unter feste Regeln: ewige Armut, Keuschheit, Gehorsam. Gehorsam gegenüber einem
höherstehenden Ordensmann, das ja; aber wichtiger noch war der Gehorsam gegenüber
einem Leben in der Gemeinschaft. Diese Regeln gaben ihm das Gefühl, frei zu sein.
Doch was den Gehorsam betraf, verfolgte ihn der Gedanke, daß sein ehemaliger Vorgesetzter
einmal kritisch angemerkt hatte, Martin Mills würde sich wohl eher für einen Mönchsorden
eignen – einen strengeren Orden wie etwa die Karthäuser. Die Aufgabe der Jesuiten
ist es, in die Welt hinauszugehen. Auch wenn sie unserem Verständnis zufolge nicht
»weltlich« sind, sind sie doch keine Mönche.
    »Ich bin kein Mönch«,
sagte Martin Mills laut. Die [450]  umstehenden Taxifahrer verstanden dies als Aufforderung;
wieder drängten sie sich um ihn.
    »Vermeide Weltlichkeit«,
warnte Martin sich selbst. Er lächelte die durcheinanderlaufenden Taxifahrer nachsichtig
an. Über seinem Bett in St. Aloysius hatte eine Ermahnung in lateinischer Sprache
gestanden, die indirekt besagte, daß sich jeder selbst um seine Angelegenheiten
kümmern solle – etiam si sacerdotes sint (»auch wenn sie Priester sind«). Deshalb beschloß Martin Mills,
auf eigene Faust nach Bombay zu fahren.
    Der falsche Taxifahrer
    Von den
Taxifahrern sah nur einer kräftig genug aus, um den Koffer zu tragen. Es war ein
großer Mann mit Bart, dunkelbraunem Gesicht und einem auffallend scharf geschnittenen
Profil.
    »St. Ignatius, Mazgaon«,
sagte Martin zu diesem Taxifahrer, den er für einen Studenten mit einem aufreibenden
Nachtjob hielt – einen bewundernswerten jungen Mann, der sich auf diese Weise wahrscheinlich
das Geld für seine Ausbildung verdiente.
    Mit grimmigem Blick
nahm der junge Mann den Koffer und schleuderte ihn in sein wartendes Taxi. Sämtliche
Taxifahrer hatten auf den Ambassador mit dem schlägernden Zwerg am Steuer gewartet,
denn keiner von ihnen hatte wirklich geglaubt, daß sich Inspector Dhar herablassen
würde, ein anderes Taxi zu nehmen. In den Inspector-Dhar-Filmen kamen viele Taxifahrer
vor, und alle wurden als rücksichtslos und verrückt hingestellt.
    Dieser Taxifahrer
nun, der den Koffer des Missionars eingeladen hatte und jetzt zusah, wie Martin
Mills auf den Rücksitz rutschte, war ein zu Gewalt neigender junger Mann namens
Bahadur. Man hatte ihn gerade aus der Hotelfachschule hinausgeworfen, weil er bei
einer Prüfung im Fach Restaurant-Service geschummelt hatte – er hatte die Antwort
auf eine ziemlich [451]  einfache Frage abgeschrieben. (»Bahadur« bedeutet übrigens
»tapfer«.) Er war gerade erst von Bombay zum Flughafen gefahren und hatte die neuen
Plakate gesehen, die Inspector Dhar und die Türme des Schweigens ankündigten und
die sein Loyalitätsgefühl zutiefst beleidigten. Obwohl das Taxifahren nicht Bahadurs
bevorzugte Tätigkeit war, war er seinem derzeitigen Arbeitgeber, Mr. Mirza, doch
dankbar. Mr. Mirza war Parse. Er würde Inspector Dhar und die Türme des Schweigens
zweifellos als zutiefst beleidigend empfinden. Für Bahadur war es Ehrensache, sich
stellvertretend für

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