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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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theologischen Studien widmen.
    Sein zweijähriges
Noviziat als Jesuit hatte er in St. Aloysius in Massachusetts absolviert – nach
Ansicht von Pater Julian wegen der bekanntlich extrem harten Winter die Entscheidung
eines Extremisten. Sie deutete auf eine Neigung zur Selbstgeißelung und zu anderen
Kasteiungen des Fleisches hin, außerdem auf eine Vorliebe für das Fasten, das die
Jesuiten im Prinzip ablehnten und höchstens in moderater Form billigten. Wieder
schien der Pater Rektor Martin Mills’ Dossier nach einem versteckten Hinweis auf
irgendwelche Charakterschwächen hin zu [440]  durchforsten. Frater Gabriel und Pater
Cecil wiesen Pater Julian darauf hin, daß Martin sich der Ortsprovinz der Societas
Jesu in Neuengland angeschlossen hatte, während er in Boston unterrichtete. Das
Noviziat der Provinz befand sich in Massachusetts, weshalb es ganz normal war, daß
Martin Mills als Novize nach St. Aloysius ging. Im Grunde war es überhaupt keine
»Entscheidung« gewesen.
    Aber warum hatte
er zehn Jahre lang in einer trostlosen Gemeindeschule in Boston unterrichtet? In
seinem Dossier stand zwar nicht, daß die Schule »trostlos« war, aber immerhin, daß
sie nicht staatlich anerkannt war. Im Grunde war es eine Art Besserungsanstalt gewesen,
in der junge Delinquenten dazu gebracht werden sollten, ihr kriminelles Verhalten
aufzugeben. Soweit der Pater Rektor wußte, versuchte man dies mit den Mitteln des
Theaters. Martin Mills hatte Theaterstücke inszeniert, in denen sämtliche Rollen
von ehemaligen Strolchen, Halunken und Verbrechern gespielt wurden! Und in dieser
Umgebung hatte er zum erstenmal seine Berufung gespürt – er hatte die Anwesenheit
Christi gespürt und sich zum Priestertum hingezogen gefühlt. Aber warum hat er dafür
zehn Jahre gebraucht? fragte sich Pater Julian. Nach Beendigung seines Noviziats
wurde Martin Mills auf das Boston College geschickt, um Philosophie zu studieren;
dieser Schritt fand Pater Julians Zustimmung. Aber dann, mitten während seines Magisteriums,
hatte der junge Martin um eine dreimonatige »Prüfungszeit« in Indien nachgesucht.
Bedeutet das, daß dem Scholastiker Zweifel bezüglich seiner Berufung gekommen sind?
überlegte Pater Julian.
    »Tja, das werden
wir ja bald feststellen«, meinte Pater Cecil. »Mir scheint, daß er völlig in Ordnung
ist.« Um ein Haar hätte er gesagt, daß ihm Martin Mills ganz und gar »wie Loyola«
vorkäme, besann sich jedoch eines Besseren, weil er wußte, daß der Pater Rektor
all jenen Jesuiten mißtraute, die sich in ihrem Ver [441]  halten zu sehr am Leben des
heiligen Ignatius von Loyola orientierten, dem Gründer des Jesuitenordens, der Societas
Jesu.
    Im Zusammenhang
mit Martin Mills kamen dem Pater Rektor sofort die Exercitia spiritualia , die Geistlichen Übungen , des heiligen Ignatius von Loyola
in den Sinn. Dieses Buch enthält Regeln und Anleitungen für den geistlichen Erzieher,
nicht für den Zögling; es war nie zur Veröffentlichung und erst recht nicht zum
Auswendiglernen für zukünftige Priester bestimmt. Freilich ließ Martin Mills’ Dossier
nicht unbedingt darauf schließen, daß der Missionar die Geistlichen Übungen derart übertrieben befolgt hätte.
Aber irgendwie hatte der Pater Rektor den Verdacht, daß Martin Mills ein extrem
frommer Mensch war, auch wenn dieser Verdacht wieder einmal auf Intuition beruhte.
Nach Ansicht Pater Julians waren alle Amerikaner Fanatiker und überzeugte Do-it-yourself-Anhänger.
Entsprechend florierten an amerikanischen Schulen die autodidaktischen Lernmethoden
oder das, was der Pater mit »Lesen auf einer einsamen Insel« umschrieb. Pater Cecil
hingegen war ein gütiger Mensch, der die Auffassung vertrat, Martin Mills sollte
die Gelegenheit erhalten, sich zu bewähren.
    Der dienstälteste
Priester tadelte den Pater Rektor wegen seines Zynismus. »Sie wissen nicht mit Sicherheit,
daß unser Martin als Novize nach St. Aloysius wollte, weil er die Härte des neuenglischen
Winters gesucht hat.« Pater Cecil unterstellte Pater Julian außerdem, er würde bei
Martin Mills davon ausgehen, daß er nur nach St. Aloysius wollte, weil er es als
eine Art Bußübung zur Kasteiung des Fleisches betrachtete. Aber da irrte sich Pater
Julian. Hätte er den wahren Grund gekannt, warum Martin Mills seine Zeit als Novize
in St. Aloysius hatte verbringen wollen, hätte er sich ernsthaft Sorgen gemacht,
denn ausschlaggebend war einzig und allein Martins Identifikation mit dem heiligen
Aloysius von

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