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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Missionar ständig zurückzwinkerte
und -lächelte. Da gab es den Katholischen Almanach in der Ausgabe von 1988 und zahlreiche sogenannte Studien zur Spiritualität
der Jesuiten; es gab einen Katholischen Taschenkatechismus und ein Kompaktes Bibellexikon , eine Bibel, ein Lektionar und ein
schmales Büchlein mit dem Titel Sadhana: Ein Weg zu Gott von Anthony de Mello, S. J., außerdem
die Lebenserinnerungen des heiligen Ignatius von Loyola,
ein Exemplar der Geistlichen Übungen und noch eine Menge anderer Bücher. Alles in allem enthielt der
Koffer mehr Bücher als Hawaiihemden und Priesterkragen zusammen.
    »Und wo werden Sie
wohnen, in den drei Monaten?« fragte [447]  der Zollbeamte Martin Mills, dessen linkes
Auge vom vielen Zwinkern allmählich müde wurde.
    »In St. Ignatius
in Mazgaon«, antwortete der Jesuit.
    »Aber ja, natürlich!«
sagte der Zollbeamte. »Ich bin ein grosser Bewunderer Ihrer Arbeit!« flüsterte er.
Dann gab er dem erstaunten Jesuiten noch ein Zwinkern mit auf den Weg.
    Ein christlicher
Bruder, wo man ihn am wenigsten erwartet! dachte der neue Missionar.
    Dieses viele Gezwinker
sollte den armen Martin Mills schlecht darauf vorbereiten, daß die »einheimische
Bevölkerung« Bombays das Zwinkern in den meisten Fällen als ausgesprochen aggressiv,
anzüglich und unhöflich empfand. Aber auf diese Weise gelangte der Scholastiker
durch den Zoll und in die nach Fäkalien stinkende Nachtluft – wobei er die ganze
Zeit darauf hoffte, von einem seiner Mitbrüder freundlich begrüßt zu werden.
    Wo blieben sie bloß?
fragte sich der neue Missionar. Waren sie im Verkehr steckengeblieben? Draußen vor
dem Flughafenherrschte ein wildes Durcheinander, aber gleichzeitig gab es wenig
Verkehr. Eine Menge Taxis standen herum, alle am Rande einer undurchdringlichen
Dunkelheit, so daß es Martin Mills vorkam, als wäre der Flugplatz nicht riesig und
geschäftig (wie er anfangs gedacht hatte), sondern ein einsamer, anfälliger Vorposten
in einer unendlichen Wüste, in der Feuer unbemerkt erloschen und Menschen sich unbemerkt
hinhockten und sich entleerten, ohne Unterlaß, die ganze Nacht.
    Dann fielen die
Taxifahrer wie Fliegen über ihn her. Sie zupften an seiner Kleidung, zerrten an
seinem Koffer, den er, obwohl er außerordentlich schwer war, nicht loslassen wollte.
    »Nein danke, ich
werde abgeholt«, sagte er. Er stellte fest, daß ihn sein Hindi im Stich ließ – auch
gut, er konnte die Sprache ohnehin nur sehr schlecht. Der erschöpfte Missionar hatte
den Verdacht, unter jener Paranoia zu leiden, die bei Leuten, die zum erstenmal
in den Osten reisen, gang und gäbe ist, da es ihm [448]  zunehmend angst machte, wie
die Taxifahrer ihn ansahen. Einige waren von tiefer Ehrfurcht ergriffen, andere
sahen aus, als wollten sie ihn umbringen. Sie hielten ihn für Inspector Dhar, und
obwohl sie zu ihm hinhuschten wie Fliegen und von ihm wegschossen wie Fliegen, wirkten
sie – für Fliegen – eindeutig zu gefährlich.
    Nach einer Stunde
stand Martin Mills noch immer da und wehrte neu hinzukommende Fliegen ab. Die alten
Fliegen verweilten in einiger Entfernung, ohne ihn aus den Augen zu lassen, aber
auch ohne sich ihm erneut zu nähern. Der Missionar war so müde, daß er das Gefühl
hatte, die Taxifahrer gehörten zur Familie der Hyänen und würden nur darauf warten,
bis seine Lebensgeister sichtbar erlahmten, um dann in Rudeln über ihn herzufallen.
Ein Gebet kam ihm auf die Lippen, aber er war zu erschöpft, um es auszusprechen.
Da man ihn über das hohe Alter der anderen Missionare informiert hatte, überlegte
er, daß sie vielleicht schon zu alt waren, um ihn vom Flugplatz abzuholen. Er wußte
auch, daß die Jubiläumsfeierlichkeiten unmittelbar bevorstanden; sicher war die
angemessene Anerkennung für einhundertfünfundzwanzig Jahre Dienst an Gott und der
Menschheit wichtiger, als einen Neuankömmling vom Flugplatz abzuholen. Das war Martin
Mills auf den Punkt gebracht: Er übte derart massive Selbsterniedrigung, daß es
schon an Eitelkeit grenzte.
    Er wechselte den
Koffer von einer Hand in die andere. Er wollte ihn auf keinen Fall auf dem Gehsteig
abstellen, zum einen weil dieses Anzeichen von Schwäche die herumstehenden Taxifahrer
veranlassen würde, sich ihm zu nähern, zum anderen weil das Gewicht des Koffers
eine gleichmäßige, willkommene Kasteiung seines Fleisches darstellte. Martin Mills
entdeckte einen gewissen Konzentrationspunkt, einen befriedigenden Sinn, in der
genauen Beschreibung

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