Zirkuskind

[518]  Schlußfolgerung, nämlich daß Rahul den alten Lowji ermordet
hatte. Da war zu viel Phantasie im Spiel, der Sprung war zu groß. Eine solche Folgerung
verdarb den schriftlichen Bericht des Doktors und ließ ihn, nach Ansicht des Kommissars,
»amateurhaft« erscheinen.
    »Ihr Vater wurde
von Profis in die Luft gejagt«, erklärte der Inspektor dem Doktor. »Ich war damals
noch Inspektor auf der Polizeiwache Colaba, nur der diensthabende Beamte. Die Polizeiwache
in Tardeo hat sich um die Angelegenheit gekümmert. Ich hatte keinen Zutritt zum
Tatort, und später wurde die Untersuchung den Regierungsstellen übergeben. Aber
ich weiß mit Sicherheit, daß Lowji Daruwalla von mehreren Leuten in die Luft gejagt
worden ist. Eine Zeitlang hieß es, möglicherweise habe der Obergärtner die Finger
mit im Spiel gehabt.«
    »Der Gärtner vom
Duckworth Club?« rief Dr. Daruwalla. Er hatte den Obergärtner noch nie gemocht,
ohne daß er hätte sagen können, warum.
    »Damals war dort
ein anderer Obergärtner… wie Sie sichsicher erinnern«, sagte der Detective.
    »Ach ja«, sagte
Farrokh. Er kam sich von Minute zu Minute mehr wie ein Amateur vor.
    »Jedenfalls könnte
Rahul durchaus der Anrufer sein, auch wenn das reine Vermutung ist«, sagte Patel.
»Aber ein Spezialist für Autobomben ist er nicht.«
    Der Doktor saß noch
immer trübsinnig da und betrachtete die auf den Bildern dokumentierten Schicksale
der ermordeten Frauen. »Aber warum sollte Rahul mich hassen? Oder auch Dhar?« fragte
Dr. Daruwalla.
    »Das ist genau die
Frage, die Sie in Ihrer schriftlichen Aussage nicht beantworten und nicht einmal
stellen«, sagte Kommissar Patel. »Ja, warum?«
    Beiden Männern ging
diese unbeantwortete Frage nach – Dr. Daruwalla, während er ein Taxi ins Stadtzentrum
nahm, um [519]  sich mit Martin Mills zu treffen, und Detective Patel, während er an
seinen Platz hinter dem Schreibtisch zurückkehrte. Dort sah sich der Kommissar aufs
neue mit den zwinkernden Elefanten auf den schlaffen Bäuchen der brutal ermordeten
Frauen konfrontiert.
    Kein Motiv
    Der Kommissar
sann darüber nach, daß das Geheimnis von Rahuls Haß wahrscheinlich nicht zu ergründen
war. Freilich konnte man endlose Mutmaßungen anstellen, aber befriedigend klären
ließ sich die Angelegenheit wohl nicht – wahrscheinlich niemals. Die Frage nach
dem Motiv für Rahuls Haß würde unbeantwortet bleiben. Und genau das war bei sämtlichen
Inspector-Dhar-Filmen absolut unglaubwürdig: daß sämtliche Motive der Mörder immer
eindeutig nachgewiesen wurden. Die Gründe für diese oder jene Haßgefühle, die zu
dieser oder jener Gewalttat führten, waren immer einleuchtend. Detective Patel bedauerte,
daß Rahul Rai keine Filmfigur war.
    Außer der schriftlichen
Aussage hatte sich der Detective von Dr. Daruwalla auch ein Empfehlungsschreiben
an den Duckworth Club geben lassen, da es seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen
war, daß dieser Ehrenvorsitzender des Mitgliederausschusses dieses Clubs war. Darin
wurde der Duckworth Club ersucht, Kommissar Patel die Liste mit den Namen der neuen
Mitglieder zur Verfügung zu stellen – wobei sich »neu« auf die letzten zwanzig Jahre
bezog. Der Kommissar schickte einen Unterinspektor mit dieser schriftlichen Aufforderung
in den Club, mit der Anweisung, diesen nicht ohne die Namensliste zu verlassen.
Detective Patel bezweifelte, daß es notwendig sein würde, die Namen aller sechstausend
Mitglieder durchzugehen. Mit ein bißchen Glück würde sich ein in letzter Zeit neu
aufgenommener [520]  Verwandter der verstorbenen Promila Rai leicht ausfindig machen
lassen. Es fiel dem Kommissar schwer, seine Ungeduld zu zügeln, während er auf den
Unterinspektor mit der Liste wartete.
    Detective Patel
saß an seinem Schreibtisch inmitten der Staubpartikel, die im Luftwirbel des Deckenventilators
tanzten, der nicht zu hören war – nicht etwa, weil er wirklich geräuschlos lief,
sondern weil das unablässige Schreibmaschinenorchester der Sekretärinnen sein schwaches
Surren und Klicken übertönte. Anfangs war der Kommissar hellauf begeistert über
die Information gewesen, die er von Dr. Daruwalla erhalten hatte. Er war Rahul noch
nie so dicht auf den Fersen gewesen. Jetzt war er überzeugt, daß die Verhaftung
des Mörders unmittelbar bevorstand. Trotzdem behielt der Detective seine Vorfreude
für sich, weil er auf jeden Fall vermeiden wollte, daß Nancy enttäuscht wurde, falls
irgendein Puzzleteil nicht passen sollte –