Zirkuskind
Herzchen, wenn
ich ärgerlich geklungen habe.« Der Detective hörte sich ausgelaugt an. Seine Kollegen
und deren Sekretärinnen wünschten, sie könnten ihm helfen. Sie lauschten nicht,
um Informationen im Zusammenhang mit den ermordeten Prostituierten aufzuschnappen,
da sie wußten, daß die Belege für das, was diesen Frauen angetan worden war, vom [523] Kommissar nie weiter entfernt waren als in der obersten Schublade seines Schreibtischs.
Vielmehr war es das mitleiderregende Eingeständnis von Detective Patels Liebe zu
seiner unglücklichen Frau, die den Motorradmechaniker dazu veranlaßte, die Hand
vom Gashebel zu nehmen.
Patel legte die
Fotografien gewissenhaft in die oberste Schublade zurück. Er legte sie stets eine
nach der anderen hinein, so wie er sie auch getreulich in genau der Reihenfolge
betrachtet hatte, in der die Verbrechen entdeckt worden waren. »Ich liebe dich auch,
Herzchen«, sagte der Detective ins Telefon. Er wartete immer, bis Nancy aufgelegt
hatte. Dann knallte er die oberste Schreibtischschublade zu und stürzte auf den
Balkon. Und jedesmal überrumpelte er seine Kollegen und deren Sekretäre. Keine von
ihnen konnte so schnell wieder zu tippen anfangen, wie der Kommissar zu schreien
anfing.
»Sind euch vielleicht
die Berichte ausgegangen?« brüllte er. »Sind euch vielleicht sämtliche Finger abgefallen?«
schrie er. »Gibt es keine Morde mehr? Gehören Verbrechen der Vergangenheit an? Seid
ihr alle in Urlaub gegangen? Habt ihr nichts Besseres zu tun, als mir zuzuhören?«
Das Tippen hatte wieder eingesetzt, obwohl Detective Patel wußte, daß die ersten
Wörter in den meisten Fällen sinnlos waren. Unten im Hof begannen die Dobermannpinscher
wie verrückt zu bellen; er konnte sie in ihrem Zwinger umherspringen sehen. Und
er sah, wie sich der Mechaniker auf das nächstbeste Motorrad schwang und wieder
und wieder, allerdings ohne Erfolg, auf den Kickstarter sprang. Der Motor gab ein
trockenes, schnappendes Geräusch von sich, wie wenn ein Sperrhaken in ein Sperrad
einrastet.
»Du mußt den Vergaser
entlüften, da ist zuviel Luft drin!« schrie Patel zu dem Mechaniker hinunter, der
sich rasch am Vergaser zu schaffen machte, während sein rastloses Bein nach wie
vor auf den Kickstarter trat. Als der Motor ansprang und der Mechaniker ihn derart
laut auf Touren brachte, daß er das Gebell [524] der Dobermänner vollständig übertönte,
kehrte der Kommissar in sein Büro zurück und setzte sich mit geschlossenen Augen
an den Schreibtisch. Nach einiger Zeit begann er mit dem Kopf zu wippen, als hätte
er unter den stakkatohaften Ausbrüchen der Polizeischreibmaschinen einen Rhythmus
gefunden, dem er sich anschließen konnte, wenn auch keine Melodie.
Er hatte es nicht
direkt versäumt, Nancy zu sagen, daß sie morgen mit Dr. Daruwalla – und wahrscheinlich
auch mit Inspector Dhar – im Duckworth Club zu Mittag essen würden. Er hatte ihr
diese Information absichtlich vorenthalten, weil er wußte, daß sie sie beunruhigen
oder sogar zum Weinen bringen würde – zumindest würde sie ihr eine weitere lange,
schlaflose Nacht voll hilflosen Kummers bereiten. Nancy haßte es auszugehen. Außerdem
hatte sie eine unsinnige Abneigung gegen Inspector Dhars Erfinder und gegen Dhar
entwickelt. Detective Patel wußte, daß die Abneigung seiner Frau ebenso unlogisch
war wie ihr Vorwurf an die beiden Männer, sie würden nicht begreifen, was für ein
schweres Trauma sie in Goa erlitten hatte. Und der Detective sah voraus, daß Nancy
sich auf ähnlich unlogische Weise in Anwesenheit von Daruwalla und Dhar schämen
würde, weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, jemandem wieder zu begegnen,
der sie damals gekannt hatte.
Er würde ihr das
mit dem Lunch im Duckworth Club morgen früh sagen, dachte der Detective. Auf diese
Weise würde seine Frau vielleicht einigermaßen gut schlafen können. Außerdem hoffte
er, nach Durchsicht der Liste mit den Namen der neuen Clubmitglieder vielleicht
zu wissen, wer Rahul war – oder als wer er oder sie sich inzwischen ausgab.
Patels Kollegen
und ihre Sekretäre entspannten sich erst, als sie seine Schreibmaschine hörten,
die ihre langweilige Melodie zum Orchester beisteuerte. Dieses monotone Geräusch
aus dem Büro des Kommissars war ihnen willkommen und beruhigte sie, denn das ausdruckslose
Klacken der Tasten verriet ihnen, daß der [525] Kommissar seine normale Verfassung
– wenn auch nicht seinen Seelenfrieden – wiedererlangt hatte. Es tröstete
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