Zirkuskind
zumal er aus Erfahrung wußte, daß immer
irgendein Puzzleteil nicht paßte.
»Aber warum sollte
Rahul mich hassen? Oder auch Dhar?« hatte Dr. Daruwalla gefragt. Obwohl der Detective
diese Frage als typische Eitelkeit des Erfinders von Inspector Dhar wertete, hatte
er – der echte Detective – den Doktor dazu animiert, sich genau diese Frage immer
wieder zu stellen.
Der Kommissar hatte
zu lange mit diesen Fotos gelebt, und der kleine Elefant mit seinem großspurigen
Stoßzahn und den schelmischen Augen hatte ihm arg zugesetzt, von den ermordeten
Frauen mit ihren teilnahmslosen Bäuchen ganz zu schweigen. Er war überzeugt, daß
es nie ein zufriedenstellendes Motiv für einen derartigen Haß geben würde. Rahuls
eigentliches Verbrechen bestand darin, daß er seine Taten nicht ausreichend rechtfertigen
konnte. Etwas an diesem Rahul würde unerklärlich bleiben, denn das Entsetzliche
an solchen Morden bestand eben darin, daß sie nicht ausreichend motiviert waren.
Und deshalb hatte Detective Patel das Gefühl, daß seine Frau zwangsläufig enttäuscht [521] sein würde. Er würde sie nicht anrufen, weil er ihr keine Hoffnungen machen wollte.
Wie er sich hätte denken können, rief Nancy ihn an.
»Nein, Herzchen«,
sagte der Detective.
Im angrenzenden
Büro hörte das Geklapper der Schreibmaschinen auf, dann hörte auch im nächsten Büro
die Tipperei auf – und so weiter, den ganzen Balkon entlang.
»Nein, das hätte
ich dir gesagt, Herzchen«, sagte der Kommissar.
Seit zwanzig Jahren
rief Nancy ihn fast jeden Tag an. Undjedesmal fragte sie ihn, ob er Beths Mörder
gefaßt habe.
»Ja, natürlich verspreche
ich dir das, Herzchen«, sagte der Detective.
Die großen Dobermänner
unten im Hof schliefen noch, und der Mechaniker hatte Erbarmen und unterbrach den
infernalischen Lärm, den er mit den Motoren der Streifenmotorräder veranstaltete,
indem er sie immer wieder hochjagte. Diese uralten Dinger mußten so oft neu eingestellt
werden, daß die Hunde davon nicht mehr aufwachten. Doch selbst dieser Lärm hatte
aufgehört, als hätte der Mechaniker – trotz des ständigen Hochjagens und Drosselns
– hören können, daß das Maschinengeklapper verstummt war, und sich den schweigenden
Schreibmaschinen angeschlossen.
»Ja, ich habe dem
Doktor die Fotos gezeigt«, erklärte Patel Nancy. »Ja, natürlich hattest du recht,
Herzchen«, bestätigte er seiner Frau.
Auf einmal war da
ein neues Geräusch in Detective Patels Büro. Er sah sich um, um festzustellen, woher
es kam. Erst allmählich wurde ihm bewußt, daß das Maschinengeklapper ausgesetzt
hatte. Dann blickte er hinauf zu dem kreiselnden Deckenventilator und realisierte,
daß er dessen Schwirren und Klicken hörte. Es war so leise, daß er die rostigen
Eisenräder der Essenskarren hören konnte, die von Hand die Dr. Dadabhoy Naoroji [522] Road entlanggeschoben wurden. Die Essensausträger waren unterwegs, um den Büroangestellten
im Stadtzentrum ihr warmes Mittagessen zu bringen.
Kommissar Patel
wußte, daß seine Amtskollegen und ihre Sekretäre jedes Wort seines Gesprächs mit
anhörten, und flüsterte deshalb ins Telefon. »Herzchen«, sagte er, »es ist ein kleines
bißchen besser, als du anfangs gedacht hast. Der Doktor hat die Leichen nicht nur
gesehen, sondern er kennt auch Rahul. Sowohl Daruwalla als auch Dhar wissen tatsächlich,
wer er ist… oder zumindest, wer er, oder sie, war.« Nach einer kurzen Pause flüsterte
Patel: »Nein, Herzchen, sie haben ihn, oder sie, nicht gesehen… seit zwanzig Jahren
nicht.«
Dann hörte der Detective
wieder seiner Frau zu – und dem Deckenventilator und den knirschenden Rädern der
fernen Essenskarren.
Als der Kommissar
wieder sprach, war es ein Aufschrei, kein Geflüster. »Aber ich habe deine Theorie
nie verworfen!« rief er ins Telefon. Dann schlich sich ein vertrauter, resignierter
Ton in seine Stimme. Er schmerzte seine Kollegen aufrichtig, denn alle schätzten
ihn sehr und konnten das Motiv für die extreme Liebe, die Detective Patel für seine
Frau empfand, ebensowenig ergründen wie dieser das Motiv für Rahuls extremen Haß.
Was mochte nur der Grund für eine solche Liebe oder einen solchen Haß sein – dieses
Rätsel zwang die Polizeibeamten und ihre Sekretäre zum Zuhören. Den ganzen Balkon
entlang waren sie überwältigt von der Intensität einer in ihren Augen grundlosen,
irrationalen Liebe.
»Nein, natürlich
bin ich nicht verärgert«, sagte Patel zu Nancy. »Es tut mir leid,
Weitere Kostenlose Bücher