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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Parasitenleben
in den Häusern zumeist wohlhabender Regisseure, Produzenten und beinahe berühmter
Schauspieler ein Rückschritt war, gab es in den billigen [561]  Mietwohnungen wenigstens
keine fremden Kleider und Spielsachen. In dieser Beziehung empfand Martin Mills
sie als Fortschritt. Venice allerdings nicht. Dem jungen Martin war auch noch nicht
in den Sinn gekommen, daß Danny und Vera nur darauf warteten, daß ihr Sohn endlich
alt genug für ein Internat wurde. Sie gingen davon aus, daß ihm auf diese Weise
die anhaltend peinliche Lebenssituation seiner Eltern verborgen bleiben würde –
ihr praktisch getrenntes Leben innerhalb der engen Grenzen derselben Wohnung, ihr
Umgang mit Veras Affären und Dannys Alkoholismus. Aber Venice war Vera zu primitiv.
Sie beschloß, die Zeit in New York zu verbringen, während Danny die Tasten seiner
Reiseschreibmaschine bearbeitete und das Risiko auf sich nahm, Martin zur Loyola
Marymount University zu fahren und wieder abzuholen. In Venice hatten sie das Erdgeschoß
eines pinkfarbenen Zweifamilienhauses am Strand bewohnt.
    »Es war die beste
Bleibe, die wir je hatten, weil sie so verdammt wirklichkeitsnah war!« erklärte
Danny seinen geduckten Gästen. »Habe ich recht, Marty?« Aber der junge Martin schwieg.
Er beobachtete den Todeskampf eines Hirtenstars, der ganz in der Nähe der unangetasteten
Horsd’œuvres, die noch immer auf dem Couchtisch im Wohnzimmer standen, einem Bussard
unterlag.
    In Wirklichkeit,
dachte Martin, hatte er Venice als ziemlich un wirklich empfunden.
    Am South Venice
Boulevard gab es überall bekiffte Hippies. Martin Mills hatte schreckliche Angst
vor einer solchen Umgebung, doch Danny rührte und überraschte ihn damit, daß er
ihm als vorweihnachtliches Geschenk einen Hund mitbrachte. Es war eine Promenadenmischung
von der Größe eines Beagle aus dem Tierheim – »dem Tod von der Schippe gesprungen«,
sagte Danny. Wegen seiner Farbe nannte er ihn »Whiskey«, obwohl Martin Einspruch
erhob. Bestimmt war der Hund mit diesem Namen zu seinem Schicksal verurteilt.
    [562]  Whiskey schlief
in Martins Zimmer, und Martin durfte seine eigenen Sachen an die meeresfeuchten
Wände hängen. Wenn er von der Schule »nach Hause« kam, wartete er, bis die Kerle
vom Rettungsdienst Feierabend machten, und ging dann mit Whiskey am Strand spazieren,
wo er sich zum erstenmal einbilden konnte, daß er von den Kindern auf dem öffentlichen
Spielplatz beneidet wurde – in diesem Fall von den Kindern, die bei der Rutsche
an der Venice Beach anstanden. Bestimmt hätten auch sie gern einen Hund gehabt,
um mit ihm im Sand spazierenzugehen.
    An Weihnachten kam
Vera zu Besuch, wenn auch nur kurz. Sie weigerte sich, in Venice zu übernachten,
und mietete statt dessen eine Suite in einem einfachen, aber sauberen Hotel an der
Ocean Avenue in Santa Monica. Dort traf sie sich mit Martin zu einem Weihnachtsfrühstück
– es war die erste von vielen einsamen, einprägsamen Mahlzeiten mit seiner Mutter,
deren Maßstab für eine luxuriöse Unterkunft sich von ihrem fachkundigen Lob des
Zimmerservice herleitete. Veronica Rose betonte wiederholt, daß es ihr lieber sei,
in einem Hotel einen zuverlässigen Zimmerservice zu haben, als in einem eigenen
Haus zu wohnen – da konnte man die Handtücher auf den Boden werfen, das Geschirr
im Bett stehenlassen, lauter solche Sachen. Sie schenkte dem jungen Martin zu Weihnachten
ein Hundehalsband, was ihn zutiefst rührte, weil er sich an keine andere Gelegenheit
erinnern konnte, bei der seine Eltern sich offenkundig verständigt hatten. Ausnahmsweise
mußte Danny mit Vera geredet haben – zumindest mußte er ihr gesagt haben, daß er
dem Jungen einen Hund geschenkt hatte.
    Doch am Silvesterabend
gab ein Rollschuhfahrer (der in dem türkis angestrichenen Zweifamilienhaus nebenan
wohnte) dem Hund einen großen Teller mit Marihuana-Lasagne zu fressen. Als Danny
und Martin nach Mitternacht noch einen Spaziergang mit Whiskey machten, griff der
Zwerg, der völlig high war, den [563]  Rottweiler eines Gewichthebers an. Einmal Zuschnappen
und Beuteln, und Whiskey war tot.
    Der Besitzer des
Rottweilers, ein Muskelprotz in Muscle Shirt und kurzer Turnhose, war völlig zerknirscht.
Danny holte eine Schaufel, mit der der kleinlaute Gewichtheber in der Nähe der Kinderrutsche
ein riesiges Grab schaufelte. Natürlich war es verboten, einen toten Hund an der
Venice Beach zu begraben, und irgendein pflichtbewußter Beobachter rief prompt die
Polizei.

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