Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Am Neujahrsmorgen in aller Früh wurde Martin von zwei Polizisten geweckt.
Danny war noch zu verkatert, um ihm beizustehen, und es stand auch kein Gewichtheber
zur Verfügung, der ihm geholfen hätte, den toten Hund wieder auszugraben. Als Martin
es endlich geschafft hatte, Whiskey in eine Mülltüte zu stopfen, legte der eine
Polizist den Hundekadaver in den Kofferraum des Polizeiautos, und der andere fragte
den Jungen, während er ihm den Bußgeldbescheid gab, in welche Schule er ginge.
    »Ich absolviere
den gestrafften Ausbildungsgang in der Loyola Marymount University«, erklärte Martin
Mills dem Polizisten.
    Nicht einmal diese
Auszeichnung hinderte den Vermieter daran, Danny und Martin wenig später vor die
Tür zu setzen, da er noch mehr Ärger mit der Polizei befürchtete. Bis sie schließlich
auszogen, hatte sich Martin Mills’ Meinung über das Haus geändert. Fast jeden Tag
hatte er den Gewichtheber mit seinem mörderischen Rottweiler gesehen, und auch den
Rollschuhfahrer mit seiner Vorliebe für Marihuana-Lasagne sah er täglich aus dem
türkisfarbenen Haus nebenan kommen oder dorthin zurückkehren. Wieder einmal tat
es Martin nicht leid, daß sie wegzogen.
    Danny, in seiner
Unbekümmertheit, fand die Geschichte hinreißend. Er dehnte seine Erzählung in die
Länge, als sei das Vogelsterben im Haus des Produzenten in der Kings Road der [564]  geeignete
Rahmen für den plötzlichen Tod des armen Whiskey. »Ein irres Ambiente war das!«
rief Danny. Inzwischen hatten sich auch sämtliche Männer unter den Tisch geflüchtet.
Genau wie die Frauen hatten auch sie Angst, die herabstoßenden Bussarde könnten
sie für seltene Vögel halten.
    »Daddy, wir haben
Bussarde im Haus!« hatte Martin geschrien. »Daddy, die Vögel!«
    »Das hier ist Hollywood,
Marty«, hatte Danny Mills geantwortet. »Mach dir keine Sorgen um die Vögel. Die
Vögel spielen keine Rolle. Das hier ist Hollywood. Alles, was zählt, ist die Geschichte.«
    Auch dieses Drehbuch
wurde nicht verfilmt – die alte Leier bei Danny Mills. Die Rechnung für die toten
seltenen Vögel sollte die Familie Mills abermals zum Umzug in ein Billigquartier
nötigen.
    An diesem Punkt
seiner Erinnerungen gab sich Martin Mills alle Mühe, seinem Gedächtnis Einhalt zu
gebieten, denn während er schon früh (noch ehe er ins Internat kam) mit den Unzulänglichkeiten
seines Vater vertraut wurde, erkannte er die lasche Moral seiner Mutter erst später
und empfand sie als ungleich verwerflicher als Dannys Schwächen.
    Allein in seiner
Zelle in Mazgaon, suchte der frischgebackene Missionar krampfhaft nach einer Möglichkeit,
weitere Erinnerungen an seine Mutter abzublocken. Er dachte an Pater Joseph Moriarity,
S. J., der an der Loyola Marymount University sein Mentor gewesen war. Als Martin
nach Massachusetts geschickt wurde, wo er keine jesuitische (und nicht einmal eine
katholische) Schule besuchte, hatte Pater Joe die religiösen Fragen des Jungen brieflich
beantwortet. Martin Mills dachte auch an Frater Brennan und Frater LaBombard, seine
Konfratres während seiner Jahre als Novize in St. Aloysius. Er erinnerte sich sogar
daran, daß Frater Flynn sich erkundigt hatte, ob nächtliche Samenergüsse »erlaubt«
seien, denn war das nicht etwas ganz und [565]  gar Unmögliches – Sex ohne Sünde? Ob
es Pater Toland gewesen war oder Pater Feeney, der gemeint hatte, ein nächtlicher
Samenerguß sei aller Wahrscheinlichkeit nach unbewußtes Masturbieren, wußte Martin
nicht mehr. Sicher war, daß daraufhin entweder Frater Monahan oder Frater Dooley
gefragt hatte, ob Masturbieren auch dann noch verboten sei, wenn es »unbewußt« geschehe.
    »Ja, immer«, hatte
Pater Gannon geantwortet. Pater Gannon freilich war übergeschnappt. Kein Priester,
der noch bei Verstand war, würde einen unbeabsichtigten nächtlichen Samenerguß als
einen Akt des Masturbierens bezeichnen. Nichts, was unbewußt geschieht, kann eine
Sünde sein, da jede »Sünde« eine freie Entscheidung voraussetzt. Pater Gannon sollte
eines Tages buchstäblich aus seinem Klassenzimmer in St. Aloysius entfernt werden,
weil man fand, daß seine wirren Reden dazu angetan waren, jene antipapistischen
Traktate aus dem 19. Jahrhundert, in denen Klöster als Bordelle für Priester hingestellt
wurden, glaubwürdig erscheinen zu lassen.
    Aber Martin Mills
hatte Pater Gannons Antwort sehr wohl zu schätzen gewußt. Genau das unterschied
die Männer von den Jungen, dachte er. Er hatte es geschafft, nach dieser Regel

Weitere Kostenlose Bücher