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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Klause des neuen Missionars war unmittelbar vor der Morgendämmerung abgebrannt.
Die Moskitos waren mit dem ersten grauen Morgenlicht gekommen und mit der ersten
Hitze des Tages verschwunden – alle bis auf einen, den Martin Mills über seinem
Feldbett an die Wand geklatscht hatte. Er hatte den Moskito mit dem zusammengerollten
Exemplar der ›Times of India‹ erlegt, nachdem dieser sich mit seinem Blut vollgesogen
hatte. Da der Blutfleck an der Wand ziemlich auffällig war und sich nur wenige Zentimeter
unterhalb des dort hängenden Kruzifixes befand, entstand bei Martin der schauerliche
Eindruck, als wäre ein großer Tropfen von Christi Blut auf die Wand getropft.
    In seiner Unerfahrenheit
hatte Martin die letzte Moskitospirale zu dicht neben seinem Feldbett angezündet.
Als seine Hand über den Boden streifte, waren die Finger offenbar mit der abgefallenen
Asche in Berührung gekommen. Und dann hatte er in [597]  seinem kurzen und bekümmerten
Schlaf sein Gesicht berührt. Das war die einzige Erklärung für den überraschenden
Anblick, der sich ihm bot, als er in den fleckigen Spiegel über dem Waschbecken
schaute. Sein Gesicht war mit aschfarbenen Fingerabdrücken übersät, als wollte er
sich über den Aschermittwoch lustig machen – oder als wäre ein Gespenst durch seine
Klause gehuscht und hätte ihn gestreift. Die Aschespuren kamen ihm vor wie eine
höhnische Segnung; vielleicht verliehen sie ihm auch das Aussehen eines unaufrichtigen
Büßers.
    Nachdem er Wasser
ins Waschbecken hatte laufen lassen und sein Gesicht zum Rasieren angefeuchtet hatte,
nahm er den Rasierer in die rechte Hand und griff mit der linken nach dem kleinen
Stückchen Seife in der Schale. Es war ein unregelmäßig geformter Rest, dessen schillerndes
Blaugrün sich in der silbern glänzenden Seifenschale spiegelte. Wie sich herausstellte,
war es eine Eidechse, die auf seinen Kopf sprang, noch bevor er sie berührte. Ängstlich
registrierte der Missionar, wie das Reptil über seinen Schädel lief. Von dort aus
sprang es auf das Kruzifix an der Wand über dem Feldbett, stieß sich dann von Christi
Gesicht ab und landete auf der Jalousie, durch die das Licht der aufgehenden Sonne
schräg auf den Boden des kleinen Raums fiel.
    Martin Mills erschrak
heftig. Als er sich die Eidechse aus dem Haar wischen wollte, ritzte er sich mit
dem Rasierer an der Nase. Ein kaum spürbares Lüftchen verblies die von den Moskitospiralen
abgefallene Asche, während der Missionar zusah, wie sein Blut in das Wasser im Waschbecken
tröpfelte. Auf Rasierschaum verzichtete er schon lange; einfache Seife reichte völlig
aus. Da es auch keine Seife gab, rasierte er sich mit dem kalten, blutigen Wasser.
    Es war erst sechs
Uhr morgens. Bis zum Gottesdienst mußte Martin Mills noch eine Stunde überstehen.
Er hielt es für eine gute Idee, sich frühzeitig in die St. Ignatius-Kirche zu begeben.
Wenn sie nicht abgesperrt war, konnte er sich still in eine Bank [598]  setzen – das
half normalerweise. Aber seine dumme Nase hörte nicht auf zu bluten, und natürlich
wollte er nicht die ganze Kirche mit Blut volltropfen. Da er vergessen hatte, Taschentücher
einzupacken – er würde sich welche kaufen müssen –, blieb ihm nichts anderes übrig,
als sich vorerst mit einem Paar schwarzer Socken zu behelfen. Obwohl sie aus dünnem
Material und nicht sehr saugfähig waren, würde man darauf die Blutflecken zumindest
nicht sehen. Er tauchte die Socken in frisches kaltes Wasser und wrang sie aus,
bis sie nur noch feucht waren. Dann stopfte er in jede Faust eine Socke und tupfte
damit, erst mit der linken Hand, dann mit der rechten, nervös den Schnitt an der
Nase ab.
    Hätte jemand Martin
Mills beim Anziehen beobachtet, hätte er vielleicht angenommen, daß sich der Missionar
in tiefer Trance befand. Ein weniger wohlwollender Beobachter hätte zu dem Schluß
kommen können, daß er geistig etwas zurückgeblieben war, weil er die Socken nicht
aus der Hand legte – nur als er seine Schuhe zuband, klemmte er sie kurz zwischen
die Zähne. An sich einfache Verrichtungen wie das Anziehen der Hose und das Zuknöpfen
des kurzärmeligen Hemdes muteten mühsam und umständlich an, fast wie ungeschickte
akrobatische Kunststücke, die er andauernd unterbrach, um sich die Nase abzutupfen.
Als Martin Mills im zweiten Hemdknopfloch eine Anstecknadel in Form eines silbernen
Kreuzes befestigte, hinterließ er daneben einen blutigen Daumenabdruck, weil die
Socken inzwischen auf seine

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