Zirkuskind
Hände abgefärbt hatten.
Die St. Ignatius-Kirche
war nicht abgesperrt. Der Pater Rektor schloß sie jeden Morgen um sechs Uhr auf,
so daß es einen Ort gab, an dem sich Martin Mills gefahrlos hinsetzen und den Beginn
der Messe abwarten konnte. Eine Zeitlang beobachtete er die Ministranten, die die
Kerzen aufstellten. Er saß in einer Bank im Mittelschiff, wo er abwechselnd betete
und sich die blutende Nase abtupfte. Dabei stellte er fest, daß es hier herunterklappbare
Kniepolster gab. Martin hatte eine Aversion gegen [599] diese Dinger, weil sie ihn
an die protestantische Schule erinnerten, in die Danny und Vera ihn im Anschluß
an Fessenden geschickt hatten.
St. Luke war eine
Einrichtung der Episkopalkirche und von daher in Martins Augen überhaupt keine konfessionelle
Schule. Die Morgenandacht bestand lediglich aus einem Lied, einem Gebet und einem
tugendhaften Vorsatz für den Tag, gefolgt von einer eigenartig weltlichen Segnung
– keinem richtigen Segen, sondern irgendeinem weisen Ratschlag, der besagte, daß
man eisern lernen und niemals abschreiben sollte. Die Teilnahme an der Sonntagsmesse
in der Kapelle war zwar Pflicht, aber der Gottesdienst war eine so lockere Angelegenheit,
daß sich kein Mensch zum Beten hinkniete. Statt dessen lümmelten sich die Schüler,
wahrscheinlich ohnehin keine überzeugten Anhänger der Episkopalkirche, in den Kirchenbänken.
Sooft Martin Mills versuchte, das Kniepolster herunterzuklappen, um sich zum Beten
richtig hinknien zu können, hielten seine Mitschüler es unnachgiebig fest. Sie benutzten
die Kniepolster ausschließlich als Fußstützen. Als Martin sich beim Direktor beschwerte,
ließ Reverend Rick Utley den Sprecher der Unterklassen wissen, daß es nur Katholiken
und Juden der Oberklassen gestattet sei, Gottesdienste in ihren eigenen Kirchen
oder Synagogen zu besuchen. Bis dahin müsse Martin mit St. Luke vorliebnehmen –
mit anderen Worten: Gekniet wurde nicht.
Martin Mills klappte
das Kniepolster in der St. Ignatius-Kirche hinunter und kniete zum Gebet nieder.
In der Bank befand sich ein Gestell mit Gesang- und Gebetbüchern. Sooft ein Tropfen
Blut auf den Deckel des obersten Gesangbuchs fiel, tupfte er mit einer Socke seine
Nase ab und wischte mit der anderen über das Gesangbuch. Er betete um die Kraft,
seinen Vater zu lieben, denn ihn nur zu bemitleiden erschien ihm nicht ausreichend.
Obwohl Martin wußte, daß die Aufgabe, seine Mutter zu lieben, nicht zu bewältigen
war, betete er um die Großherzigkeit, ihr [600] vergeben zu können. Und er betete für
Arif Komas Seele. Martin hatte Arif längst verziehen, betete aber jeden Morgen zur
Jungfrau Maria, sie möge Arif ebenfalls vergeben. Dieses Gebet begann der Missionar
stets mit denselben Worten.
»Ach, heilige Maria
Muttergottes, es war meine Schuld!« betete Martin. In gewisser Weise war die Geschichte
des Missionars ebenfalls von der Jungfrau Maria ins Rollen gebracht worden – insofern
als Martin sie ungleich mehr schätzte als seine eigene Mutter. Wäre Vera von einer
herabstürzenden Statue erschlagen worden – und hätte sich diese Erlösung zu einer
Zeit ereignet, als sich Martin noch in zartem, unausgereiftem Alter befand –, wäre
er vielleicht nie Jesuit geworden.
Seine Nase blutete
noch immer. Ein Tropfen Blut fiel auf das Gesangbuch; wieder tupfte der Missionar
die Schnittwunde ab. Diesmal beschloß er willkürlich, das Gesangbuch nicht abzuwischen,
vielleicht weil er fand, daß Blutflecken ihm ein besonderes Gepräge verleihen würden.
Schließlich handelte es sich um eine blutgetränkte Religion – getränkt mit dem Blut
Christi und der heiligen Märtyrer. Es wäre herrlich, ein Märtyrer zu sein, dachte
Martin. Er sah auf seine Uhr. In einer halben Stunde würde die Messe ihn retten,
sofern er bis dahin durchhielt.
Gibt es denn überhaupt irgendein Gen dafür?
Im Verlauf
seiner intensiven Bemühungen, Madhu aus Mr. Gargs Klauen zu retten, meldete Dr.
Daruwalla ein Telefongespräch mit Tata Zwo an. Aber der Sekretär des Gynäkologen
und Geburtshelfers ließ Farrokh wissen, daß sich Dr. Tata bereits im OP befand. Die arme Patientin, wer
immer sie sein mag! dachte Dr. Daruwalla. Er hätte keine Frau, die er kannte, gern
unter dem unzuverlässigen Skalpell von Tata Zwo gewußt, weil er dem zweiten Dr.
Tata (zu Recht oder zu Unrecht) unterstellte, daß seine [601] chirurgischen Fähigkeiten
ebenfalls zweitklassig waren. Rasch stellte sich heraus, daß auch der Arzthelfer
von
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