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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Selbst
dieser Kontakt erwies sich als nutzlos, weil der Genetiker behauptete, für diese
Form des Zwergwuchses gebe es keinen bestimmbaren genetischen Marker.
    Der Genetiker von
der Universität Toronto äußerte sich Farrokh gegenüber recht entschieden: Es sei
abwegig zu glauben, er könne für diesen autosomal dominanten Erbgang einen genetischen
Marker finden – denn Chondrodystrophie würde durch ein autosomal dominantes Gen
übertragen. Diese spezielle Form des Minderwuchses sei das Ergebnis einer Spontanmutation,
wobei nicht erblich vorbelastete Eltern zwergwüchsiger Kinder im Prinzip weniger
mit dem Risiko behaftet seien, ein weiteres zwergwüchsiges Kind zu bekommen; dasselbe
gelte für die nicht vorbelasteten Brüder und Schwestern eines chondrodystrophen
Zwergs – auch sie würden eher selten Zwerge hervorbringen. Die Zwerge selbst hingegen
könnten dieses Merkmal sehr wohl an [604]  ihre Kinder weitergeben – die Hälfte ihrer
Kinder sei ebenfalls zwergwüchsig. Doch ein genetischer Marker für dieses dominante
Merkmal sei offenbar nicht zu finden.
    Dr. Daruwalla sah
ein, daß er zuwenig von Genetik verstand, um sich mit einem Fachmann zu streiten.
Doch sammelte er weiterhin Proben von Zwergenblut und nahm die Fotos der Chromosomen
mit nach Kanada. Der Genetiker von der Universität Toronto hielt sie zwar für wenig
vielversprechend, war aber durchaus freundlich, zumal er der Freund von Farrokhs
homosexuellem Kollegen von der Kinderklinik in Toronto war.
    Dr. Gordon Macfarlane
war genauso alt wie Dr. Daruwalla und hatte im selben Jahr in der orthopädischen
Abteilung der Kinderklinik angefangen; ihre Zimmer lagen nebeneinander. Da Farrokh
ausgesprochen ungern Auto fuhr, ließ er sich häufig von Macfarlane mitnehmen, der
ebenfalls in Forest Hill wohnte. Julia und Farrokh hatten mehrere (im nachhinein
komisch anmutende) Anstrengungen unternommen, Mac für diverse alleinstehende oder
geschiedene Frauen zu interessieren. Irgendwann kam Macfarlanes sexuelle Präferenz
ans Licht, und von da an brachte er regelmäßig seinen Freund zum Abendessen mit.
    Dr. Duncan Frasier,
der homosexuelle Genetiker, war bekannt für seine Forschungsarbeiten über die sogenannten
(schwer bestimmbaren) »schwulen« Gene und wurde auch oft damit aufgezogen. Biologische
Untersuchungen über Homosexualität verunsichern die Leute. Außerdem ist die Frage,
ob Homosexualität angeboren oder ein erlerntes Verhalten ist, immer auch ein Politikum.
Die Konservativen lehnen jede wissenschaftliche Hypothese, derzufolge die sexuelle
Ausrichtung biologisch bedingt ist, ab; die Liberalen haben Angst, daß mit einem
lokalisierbaren genetischen Marker für Homosexualität – falls je einer gefunden
werden sollte – möglicherweise Mißbrauch getrieben werden könnte. Doch Dr. Frasiers
vorsichtig und vernünftig formuliertes Fazit lautete schlicht, daß es nur zwei [605]  »natürliche«
sexuelle Ausrichtungen bei den Menschen gibt – die eine tritt bei der Mehrheit auf,
die andere bei der Minderheit. Nichts, was Dr. Frasier über Homosexualität herausgefunden,
und nichts, was er je selbst erlebt oder empfunden hatte, konnte ihn davon überzeugen,
daß man es sich aussuchen konnte, ob man homosexuell oder heterosexuell veranlagt
war. Mit einem »Lebensstil«, für den man sich bewußt entschied, hatte das nichts
zu tun.
    »Wir werden mit
dem geboren, wonach wir uns sehnen – egal was es ist«, lautete Frasiers Lieblingssatz.
    Farrokh fand das
Thema interessant. Doch wenn Dr. Frasier die Suche nach »Schwulengenen« so faszinierend
fand, warum beurteilte er dann Dr. Daruwallas Suche nach einem genetischen Marker
für Vinods Zwergwuchs als so hoffnungslos? Manchmal ertappte sich Farrokh dabei,
daß er Frasier insgeheim vorwarf, sich nur deshalb nicht für Zwerge zu interessieren,
weil er nicht persönlich betroffen war, während die Homosexuellen seine ganze Aufmerksamkeit
genossen. Doch solche Gedanken konnten Farrokhs Freundschaft mit Macfarlane nicht
ernstlich erschüttern. Nicht lange, und Farrokh gab seinem schwulen Freund gegenüber
zu, daß er das Wort »schwul« nie gemocht hatte. Zu seiner Überraschung hatte Mac
ihm zugestimmt und ihm sogar gestanden, daß er sich wünschte, es würde für etwas,
was ihm so wichtig war wie seine Homosexualität, auch in der Umgangssprache ein
eigenes Wort geben, das nicht von vornherein negativ besetzt war. »Früher hat man
gesagt, mir wird ganz schwul bei der Sache, wenn man sich in

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