Zirkuskind
seiner Haut nicht wohlgefühlt
hat. Gemeint war damit eigentlich nur, daß man vor Unbehagen ins Schwitzen kam oder
daß einem eben ›schwül‹ wurde.«
Dr. Daruwalla mochte
das Wort »schwul« nicht, weil es ihn an die stereotype Ermahnung seiner Mutter erinnerte.
Wann immer er sich für längere Zeit von ihr verabschiedet hatte, legte sie ihm ans
Herz, sich »nicht in Schwulitäten« zu bringen. [606] Natürlich meinte sie damit etwas
ganz anderes. »Und deshalb ist dieses Wort für mich ein rotes Tuch«, hatte Farrokh
hinzugefügt.
Macfarlane hatte
gelacht, aber sein Freund Dr. Frasier hatte eine Spur bitter angemerkt: »Du meinst
wohl, Farrokh, daß du Schwule akzeptierst, sofern sie so wenig darüber reden, daß
sie ihr Schwulsein auch gleich unter der Decke halten könnten – und vor allem solange
sie sich nicht als Schwule bezeichnen, weil du daran Anstoß nimmst. Meinst du das?«
Aber das meinte Farrokh nicht.
»Ich habe nichts
gegen eure Ausrichtung«, hatte Dr. Daruwalla geantwortet. »Ich mag nur dieses Wort
nicht.«
Gordon Frasier wischte
Farrokhs Einwand mit einer fahrigen Geste beiseite, die Dr. Daruwalla daran erinnerte,
wie lässig der Genetiker von vornherein jegliche Hoffnung auf Erfolg für sein Zwergenblutprojekt
ausgeschlossen hatte.
Farrokhs jüngste
optische Darstellungen von Zwergchromosomen hatte Dr. Frasier mit der wegwerfenden
Bemerkung »Die müssen doch allmählich verbluten« abgetan. »Warum läßt du die kleinen
Wichser nicht in Ruhe?« hatte er gefragt.
»Wenn ich das Wort ›Wichser‹ benutzt hätte,
wärst du beleidigt gewesen«, hatte Farrokh gesagt. Aber was erwartete er eigentlich?
Ob »Zwerggene« oder »Schwulengene« – die Genetik war und blieb ein heikles Thema.
Farrokh wurmte es
deshalb um so mehr, daß er sein Zwergenblutprojekt nicht konsequent weiterverfolgte.
Es war ihm nicht klar, daß dieser Gedanke des »konsequenten Weiterverfolgens« (oder
Aufgebens) noch von dem Rundfunkinterview her in seinem Kopf herumspukte, das er
am Abend zuvor zufällig gehört hatte – dieser Blödsinn, den der larmoyante Schriftsteller
verzapft hatte. Aber wenigstens hinderte er den Doktor daran, weiter über das Thema
Zwergenblut nachzubrüten.
Sodann erledigte
Farrokh den zweiten Telefonanruf an diesem Morgen.
[607] Der rätselhafte Schauspieler
Für einen
Anruf bei John D. war es noch recht früh, aber Dr. Daruwalla hatte ihm noch nichts
von Rahul erzählt. Außerdem wollte er ihm klarmachen, wie wichtig es war, daß er
an diesem Lunch im Duckworth Club mit Detective Patel und Nancy teilnahm. Zu Farrokhs
Überraschung meldete sich ein hellwacher Inspector Dhar am Telefon seiner Suite
im Taj Mahal.
»Du klingst ja putzmunter!«
sagte Dr. Daruwalla. »Was machst du denn?«
»Ich lese ein Theaterstück,
genauer gesagt, zwei Stücke«, antwortete John D. »Und du? Müßtest du um diese Zeit
nicht an irgendeinem Knie herumschnippeln?«
Das war der berühmte,
distanzierte Dhar, ganz so, wie Farrokh ihn erschaffen hatte, kühl und sarkastisch.
Dr. Daruwalla platzte sofort mit den Neuigkeiten über Rahul heraus – daß er inzwischen
eine weibliche Identität besaß und daß die vollständige Geschlechtsumwandlung sehr
wahrscheinlich erfolgt war. Aber John D. schien sich kaum dafür zu interessieren.
Was seine Teilnahme am Lunch im Duckworth Club betraf, konnte nicht einmal die Aussicht,
bei der Ergreifung eines Massenmörders (oder einer Mörderin) dabeizusein, seine
Begeisterung wecken.
»Ich muß noch ziemlich
viel lesen«, sagte John D. zu Farrokh.
»Aber du kannst
doch nicht den ganzen Tag lesen. Was liest du denn?« fragte der Doktor.
»Das habe ich dir
doch gesagt, zwei Stücke«, sagte Inspector Dhar.
»Ach so, du meinst
Hausaufgaben«, sagte Farrokh. Er ging davon aus, daß John D. seine Texte für die
neuen Rollen am Zürcher Schauspielhaus studierte. Vermutlich dachte der Schauspieler
an die Schweiz, an seinen Hauptberuf. John D. spielte allen Ernstes mit dem Gedanken,
»nach Hause« zu fahren. Was [608] hielt ihn denn noch in Indien? Wenn er aufgrund der
jetzigen Drohung aus dem Duckworth Club austrat, was bliebihm dann noch? Den ganzen
Tag in seiner Suite im Taj Mahal oder im Oberoi Towers herumzuhocken konnte sich
JohnD. nicht vorstellen, denn genau wie Farrokh wohnte er buchstäblich im Duckworth
Club, wenn er sich in Bombay aufhielt.
»Aber jetzt, wo
man den Mörder kennt, ist es doch absurd, aus dem Club auszutreten!« rief
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