Zirkuskind
zerknittert; auf alle Fälle war er ungestümer. Jamshed
hatte Farrokh erzählt, daß sich John D. mit Matthias Frei sogar die Mietkosten für
eine Wohnung oder ein Chalet in den Bergen teilte, einmal in Graubünden, im Jahr
darauf im Berner Oberland. Angeblich sagte diese Lösung beiden zu, weil John D.
lieber die Skisaison in den Bergen verbrachte und Matthias Frei gern im Sommer zum
Bergsteigen ging. Abgesehen davon gehörten Freis Freunde wahrscheinlich einer anderen
Generation an als die von John D.
Aber wieder einmal
waren Farrokhs Einblicke in die Kreise, in denen John D. verkehrte, recht dürftig.
Und was er vom Liebesleben des Schauspielers halten sollte, wußte er erst recht
nicht. Anscheinend hatte John D. eine langjährige Beziehung mit einer Verlagsangestellten
gehabt – einer Journalistin, wenn [611] Farrokh sich recht erinnerte. Jedenfalls war
sie eine attraktive, intelligente junge Frau, mit der Dhar gelegentlich auch verreist
war, nie jedoch nach Indien; Indien bedeutete für Dhar ausschließlich Arbeit. Zusammengelebt
hatten die beiden allerdings nie. Und jetzt erfuhr Farrokh, daß diese Journalistin
und John D. »nur gute Freunde« waren.
Julia vermutete,
daß John D. keine Kinder wollte und diese Tatsache jüngere Frauen irgendwann abschreckte.
Aber jetzt, mit neununddreißig, wäre es doch denkbar gewesen, daß er eine Frau in
seinem Alter oder etwas älter kennenlernte, die sich damit abgefunden hatte, keine
Kinder mehr zu bekommen; oder eine nette geschiedene Frau, deren Kinder inzwischen
erwachsen waren. In Julias Augen wäre so jemand für John D. ideal gewesen.
Dr. Daruwalla sah
das nicht so. Inspector Dhar hatte offensichtlich nie das Bedürfnis gehabt, sich
häuslich niederzulassen. Die gemieteten Domizile in den Bergen, jedes Jahr ein anderes,
behagten ihm sehr. Selbst in Zürich legte er wenig Wert auf Besitztümer. Seine Wohnung,
von der aus er das Theater, den See, die Limmat und die Kronenhalle zu Fuß erreichen
konnte, war ebenfalls nur gemietet. Ein Auto wollte er auch nicht. Nur auf seine
gerahmten Programmzettel und sogar auf ein paar Inspector-Dhar-Plakate schien er
stolz zu sein. Dr. Daruwalla ging davon aus, daß John D.s Zürcher Freunde diese
Werbeplakate für Hindi-Filme wahrscheinlich recht komisch fanden. Sie hätten nie
nachvollziehen können, daß ein derart verrücktes Durcheinander beim Publikum rasende
Begeisterungsstürme auslöste, wie man sie sich im Zürcher Schauspielhaus in den
kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.
Jamshed war aufgefallen,
daß John D. in Zürich selten erkannt wurde; er gehörte sicher nicht zu den bekanntesten
Mitgliedern des Schauspielhaus-Ensembles. Er war weder ein ausgesprochener Charakterdarsteller
noch ein Star. Mag sein, daß [612] ihn einige Theaterbesucher erkannten, wenn sie ihn
in einem Restaurant in der Stadt sahen, aber das hieß nicht unbedingt, daß sie auch
seinen Namen wußten. Nur Schulkinder baten ihn nach der Vorstellung um ein Autogramm;
aber sie hielten ihre Programmhefte jedem Schauspieler hin.
Jamshed hatte berichtet,
daß die Stadt Zürich nur wenig Geld für Kunst bereitstellte. Vor nicht allzu langer
Zeit hatte es einen Skandal gegeben, weil die Stadt den Schauspielhauskeller, das
avantgardistische Theater für junge Theaterbesucher, hatte schließen wollen. John
D.s Freund Matthias Frei hatte einen Riesenprotest veranstaltet. Soweit Jamshed
wußte, war das Theater immer in Geldnöten. Das technische Personal hatte in diesem
Jahr keine Lohnerhöhung bekommen, und wenn jemand kündigte, wurde die Stelle nicht
neu besetzt. Farrokh und Jamshed gingen davon aus, daß John D.s Gage nicht besonders
üppig sein konnte. Freilich brauchte er das Geld auch nicht, denn Inspector Dhar
war ein reicher Mann. Für ihn spielte es keine Rolle, daß das Zürcher Schauspielhaus
von der Stadt, den Banken und privaten Geldgebern unzureichend subventioniert wurde.
Julia unterstellte
dem Theater zudem, daß es sich etwas selbstgefällig auf seiner illustren Geschichte
in den 30er und 40er Jahren ausruhte, als es zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge
aus Deutschland wurde – nicht nur für Juden, sondern auch für Sozialdemokraten,
Kommunisten und andere Leute, die öffentlich gegen die Nazis Stellung bezogen hatten
und infolgedessen nicht mehr arbeiten durften oder in Gefahr schwebten. Es hatte
Zeiten gegeben, in denen eine Aufführung des Wilhelm Tell eine trotzige, ja sogar revolutionäre
Geste war, ein
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