Zirkuskind
symbolischer Schlag gegen die Nazis. Viele Schweizer hatten befürchtet,
ihr Land könnte in den Krieg hineingezogen werden, doch das Zürcher Schauspielhaus
hatte in einer Zeit, in der jede Aufführung von Goethes Faust die letzte sein konnte, Zivilcourage
bewiesen. Auch Stücke von Sartre, Hofmannsthal und dem jungen Max [613] Frisch waren
aufgeführt worden. Der jüdische Flüchtling Kurt Hirschfeld hatte dort ein Zuhause
gefunden. Aber heutzutage, dachte Julia, gab es viele jüngere Intellektuelle, die
das Schauspielhaus wahrscheinlich recht bieder fanden. Es war nicht auszuschließen,
daß John D. diese »Biederkeit« gefiel. Für ihn zählte nur eines: daß er in Zürich
nicht Inspector Dhar war.
Wenn der Hindi-Filmschauspieler
gefragt wurde, wo er denn eigentlich zu Hause sei, da er ganz offensichtlich sehr
wenig Zeit in Bombay verbrachte, antwortete Dhar stets (mit der für ihn typischen
Vagheit), er lebe im Himalaja – »in der Heimat des Schnees«. Aber John D.s Schneeheimat
befand sich in den Alpen und in der Stadt am See. Dr. Daruwalla glaubte zwar, daß
Dhar ein Kaschmiri-Name war, doch weder er noch Inspector Dhar waren je im Himalaja
gewesen.
Jetzt beschloß der
Doktor spontan, John D. seinen Entschluß mitzuteilen.
»Ich werde kein
neues Inspector-Dhar-Drehbuch mehr schreiben«, informierte Farrokh den Schauspieler.
»Ich werde eine Pressekonferenz einberufen und mich als den Mann zu erkennen geben,
der für die Figur des Inspector Dhar verantwortlich ist. Ich möchte der Sache ein
Ende machen und dich sozusagen vom Haken lassen. Wenn du nichts dagegen hast«, fügte
er etwas unsicher hinzu.
»Natürlich habe
ich nichts dagegen«, sagte John D. »Aber erst solltest du dem echten Polizisten
noch Zeit lassen, den echten Mörder zu finden. Dabei willst du ihm doch sicher nicht
in die Quere kommen.«
»Nein, natürlich
nicht!« sagte Dr. Daruwalla beschwichtigend. »Wenn du nur zum Lunch mitkommen würdest…
ich dachte, daß du dich vielleicht irgendwie erinnerst, du mit deinem Sinn für Details.«
»An welche Art von
Details denkst du denn?« fragte John D.
»Na ja, an irgend
etwas, was mit Rahul oder mit dem Urlaub [614] in Goa zu tun hat. Im Grunde weiß ich
es auch nicht, einfach irgend etwas!« sagte Farrokh.
»Ich erinnere mich
an die Hippiefrau«, sagte Inspector Dhar. Zuerst war da die Erinnerung an ihr Gewicht;
immerhin hatte er sie im Hotel Bardez die Treppe hinunter und in die Halle getragen.
Sie war ausgesprochen kräftig gewesen und hatte ihm die ganze Zeit in die Augen
geschaut. Und dann war da noch ihr Geruch – obwohl sie gerade gebadet hatte.
Unten in der Halle
hatte sie gesagt: »Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht, könnten Sie mir einen
großen Gefallen tun.« Sie hatte ihm den Dildo gezeigt, ohne ihn aus dem Rucksack
hervorzuholen. Dhar erinnerte sich an seine abstoßende Größe und an die Spitze des
Dings, die genau auf ihn gezeigt hatte. »Die Spitze läßt sich aufschrauben«, hatte
Nancy erklärt, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Aber ich habe einfach nicht genug
Kraft.« Der riesige Schwanz war so fest zugeschraubt, daß erihn fest mit beiden
Händen umklammern mußte. Und sobald die Spitze gelockert war, hatte sie ihm Einhalt
geboten. »Das genügt«, hatte sie gesagt. »Ich möchte Sie verschonen«, hatte sie,
etwas zu leise, hinzugefügt. »Sie wollen sicher nicht wissen, was da drin ist.«
Es war eine ziemliche
Herausforderung gewesen – ihrem Blick standzuhalten und sie dazu zu bringen wegzuschauen.
John D. hatte sich darauf konzentriert, sich vorzustellen, daß der große Dildo in
ihr steckte. Er war überzeugt, daß sie in seinen Augen lesen konnte, was er dachte.
Umgekehrt glaubte er in Nancys Augen gelesen zu haben, daß sie schon früher mit
der Gefahr gespielt hatte – vielleicht hatte sie ihr sogar freudige Schauder eingejagt –, aber daß sie sich jetzt in dieser Beziehung nicht mehr so sicher war. Dann hatte
sie den Blick abgewandt.
»Ich kann mir nicht
vorstellen, was aus dieser Hippiefrau geworden ist!« platzte Dr. Daruwalla plötzlich
heraus. »Einfach [615] unglaublich, daß eine solche Frau mit Kommissar Patel zusammen
ist!«
»Ich glaube, dieser
Lunch reizt mich doch, und sei es nur, um festzustellen, wie sie aussieht… nach
zwanzig Jahren«, meinte Inspector Dhar.
Das ist nur Theater,
dachte Dr. Daruwalla. Dhar war es völlig egal, wie Nancy aussah. Ihm ging es um
etwas anderes.
»Dann… kommst du
also zum Lunch?«
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