Zirkuskind
äußerst unangenehme Vorstellung. Plötzlich
sah sich Dr. Daruwalla als der arme, todgeweihte Mr. Lal. Ich bin ein ebenso schlechter
und fanatischer Schriftsteller, dachte er, wie Mr. Lal ein schlechter und fanatischer
Golfspieler war. Er hatte nicht nur längst ein neues Drehbuch geschrieben, sondern
der neue Film war auch schon fertig geschnitten. Wie es der Zufall wollte, würde
er kurz vor oder nach der Ankunft von Dhars Zwillingsbruder in Bombay anlaufen.
Dhar hing derzeit nur herum, da er vertraglich zu einer beschränkten Anzahl von
Interviews und Fototerminen verpflichtet war, um für den neuen Streifen zu werben.
(Dieser unvermeidliche Kontakt zur Filmpresse ließ sich nicht annähernd so einschränken,
wie Dhar es sich gewünscht hätte.) Zudem gab es allen Grund anzunehmen, daß der
neue Film ebensoviel Ärger verursachen würde wie der letzte. Und deshalb muß ich jetzt aufhören, dachte Dr. Daruwalla –
bevor ich mit dem nächsten anfange!
Doch wie konnte
er aufhören? Er schrieb für sein Leben gern. Und wie konnte er hoffen, je ein besserer
Schriftsteller zu werden, wo er doch bereits sein Bestes gab? Wie der arme Mr. Lal
schaffte er es immer nur bis zum neunten Green. Jedesmal [79] flogen Blütenblätter,
aber der Golfball reagierte so gut wie gar nicht; jedesmal stand er bis zu den Knien
in den kranken Bougainvilleen und drosch wie wild auf den kleinen weißen Ball ein.
Und eines Tages würden die Geier auch über ihm kreisen und plötzlich herabstoßen.
Es gab nur zwei
Möglichkeiten: entweder endlich statt der Blüten den Ball zu treffen oder mit dem
Spiel aufzuhören. Dr. Daruwalla sah das durchaus ein. Trotzdem konnte er sich nicht
entscheiden – ebensowenig wie er sich dazu überwinden konnte, Inspector Dhar die
unangenehme Nachricht zu überbringen. Wie kann ich nur hoffen, dachte der Doktor,
je etwas Besseres zustande zu bringen? Und wie soll ich mit dem Schreiben aufhören,
wo mir so viel daran liegt?
Es tröstete ihn,
an den Zirkus zu denken. Wie ein Kind, das voller Stolz die Namen der Osterhasenkinder
oder der sieben Zwerge aufzählt, versuchte sich Farrokh an die Namen der Löwen im
Great Royal Circus zu erinnern: Ram, Raja, Wazir, Mother, Diamond, Shanker, Crown,
Max, Hondo, Highness, Lillie Mol, Leo und Tex. Und ihre Jungen hießen Sita, Gita,
Julie, Devi, Bheem und Lucy. Am gefährlichsten waren die Löwen zwischen der ersten
und der zweiten Fleischfütterung. Das Fleisch machte ihre Pfoten glitschig; während
sie in ihren Käfigen auf- und abtigerten und auf die zweite Portion warteten, glitten
sie häufig aus und fielen hin – oder rutschten seitlich gegen die Gitterstäbe. Nach
der zweiten Fütterung wurden sie dann ruhig und leckten sich das Fett von den Pfoten.
Bei Löwen konnte man sich auf bestimmte Dinge verlassen. Sie waren immer sie selbst.
Löwen versuchten nie, etwas zu sein, was sie nicht sein konnten, so wie Dr. Daruwalla
versuchte, Schriftsteller zu sein – so wie ich ständig versuche, ein Inder zu sein!
dachte Farrokh.
Und fünfzehn Jahre
hatte er noch keinen genetischen Marker für den chondrodystrophen Zwergwuchs entdeckt,
und es hatte ihn auch niemand ermutigt, danach zu suchen. Aber [80] Dr. Daruwalla
versuchte es weiterhin. Sein Zwergenblut-Projekt war nicht gestorben. Er würde es
nicht begraben – noch nicht.
Nur weil ein Elefant auf eine
Wippe getreten ist
Als Dr.
Daruwalla auf die Sechzig zuging, war seinen Äußerungen nichts mehr von dem Enthusiasmus
aus der Zeit seiner Bekehrung zum Christentum anzumerken. Es war, als würde allmählich
eine Ent kehrung stattfinden. Aber vor fünfzehn
Jahren – als der Doktor zum Zirkusgelände auf dem Cross Maidan fuhr, um festzustellen,
was mit Vinod passiert war – war sein Glaube noch so frisch, daß er dem Zwerg bereits
haarklein die wundersamen Umstände dieser Bekehrung erzählt hatte. Sollte Vinod
wirklich sterben, würde die Erinnerung an ihr Gespräch über Religion den Doktor
zumindest etwas trösten – denn Vinod war ein sehr religiöser Mensch. In den folgenden
Jahren sollte Farrokh im Glauben immer weniger echten Trost finden, bis es irgendwann
so weit kam, daß der Doktor jedem religiösen Gespräch mit Vinod aus dem Weg ging,
weil er den gigantischen Fanatismus des Zwergs nicht mehr ertragen konnte.
Doch auf dem Weg
zum Great Blue Nile, wo er feststellen sollte, welches Unglück dem Zwerg widerfahren
war, dachte er gerührt daran, wie freudig erregt der Zwerg über die Parallelen
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