Zirkuskind
glaube nicht,
aber vielleicht doch«, sagte sie.
Kommissar Patel
zog sich an und ließ sie dann im Schlafzimmer allein. Immer noch nackt durchwühlte
Nancy plan- und ziellos ihren Kleiderschrank. Die Frage, was sie in den Duckworth
Club anziehen sollte, machte ihr zu schaffen. Vijay hatte gesagt, er würde von der
Polizeiwache nach Hause kommen und mit ihr zusammen in den Duckworth Club fahren,
so daß sie nicht allein hinkommen mußte. Aber der Detective bezweifelte, daß sie
das überhaupt gehört hatte. Er würde frühzeitig [618] heimkommen müssen, denn vermutlich
würde er sie immer noch nackt im Schlafzimmer antreffen, wo sie bestenfalls ihre
Kleider durchprobierte.
Manchmal (an ihren
»guten« Tagen) ging sie in die Küche, den einzigen Raum der Wohnung, in den etwas
Sonne kam, und legte sich auf die Platte der Anrichte, auf die ein länglicher Flecken
Sonnenlicht fiel. Die Sonne schien nur morgens zwei Stunden lang durchs offene Fenster,
aber die genügten für einen Sonnenbrand, wenn sie sich nicht eincremte. Einmal hatte
sie sich ganz nackt auf die Platte gelegt, und eine Frau aus einer Wohnung gegenüber
hatte die Polizei gerufen. Die Anruferin hatte Nancy als »obszön« bezeichnet. Danach
hatte Nancy immer etwas angehabt, und wenn es nur eines von Vijays Hemden war. Manchmal
trug sie auch eine Sonnenbrille, mit der sie jedoch »Waschbäraugen« bekam, wie sie
es nannte. Ihr war es lieber, wenn sie im Gesicht gleichmäßig braun wurde.
Nancy ging nie aus
dem Haus, um Lebensmittel zu besorgen, weil sie behauptete, die Bettler würden über
sie herfallen. Sie war eine recht passable Köchin, aber die Einkäufe erledigte Vijay.
Da beide nicht viel von Einkaufslisten hielten, brachte er etwas nach Hause, worauf
er Appetit hatte, und sie überlegte sich dann, wie sie es zubereiten könnte. Ein-
oder zweimal im Monat ging sie aus dem Haus, um Bücher zu kaufen, vorzugsweise an
den Straßenständen in der Churchgate Street und an der Kreuzung Mahatma Gandhi und
Hornby Road. Am liebsten mochte sie Bücher aus zweiter Hand, vor allem Memoiren.
Ihr Lieblingsbuch war A Combat Widow of the Raj – Lebenserinnerungen, die mit dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders
endeten. Sie kaufte auch ziemlich viele amerikanische Remittenden, Romane, für die
sie selten mehr als fünfzehn Rupien pro Stück bezahlte – manchmal sogar nur fünf.
Leute, die Bücher kauften, wurden von den Bettlern in Ruhe gelassen, behauptete
Nancy.
[619] Ein- oder zweimal
in der Woche führte Vijay sie zum Essen aus. Obwohl sie das Geld aus dem Dildo noch
immer nicht ganz aufgebraucht hatten, meinten sie, sich keine Hotelrestaurants leisten
zu können – die einzigen Orte, die Nancy das Gefühl von Anonymität gaben, da sie
dort unter Ausländern war. Sie hatten sich nur einmal deshalb gestritten. Vijay
hatte gesagt, er habe den Verdacht, daß sie die Hotelrestaurants deshalb bevorzugte,
weil sie sich dort einbilden konnte, eine Touristin zu sein, die sich nur auf der
Durchreise befand. Er hatte ihr vorgeworfen, daß sie eigentlich gar nicht in Indien
leben wollte, daß sie am liebsten in die Vereinigten Staaten zurückkehren würde.
Da sollte sie ihn aber kennenlernen! Als sie das nächste Mal in ihr Stammrestaurant
gingen – zu einem Chinesen namens Kamling an der Churchgate Street –, ließ Nancy
den Besitzer an ihren Tisch rufen. Sie fragte ihn, ob er wüßte, daß ihr Mann Polizeikommissar
sei. Das wußte der Chinese tatsächlich, weil sich das Kriminalkommissariat ganz
in der Nähe befand, gleich gegenüber dem Crawford Market.
»Wie kommt es dann,
daß Sie uns nie einladen?« wollte Nancy wissen.
Von da an aßen sie
dort immer umsonst und wurden außerdem fürstlich behandelt. Nancy meinte, mit dem
Geld, das sie sparten, könnten sie es sich leisten, ab und zu in ein Hotelrestaurant
zu gehen – oder zumindest in eine Hotelbar –, aber dazu kam es selten. Bei den wenigen
Malen übte Nancy gnadenlos Kritik am Essen; und außerdem pickte sie die Amerikaner
unter den Gästen heraus und sagte lauter abscheuliche Sachen über sie.
»Wehe, du wagst
es, noch einmal zu behaupten, daß ich in die Staaten zurück möchte, Vijay«, sagte
sie. Sie brauchte es nur einmal zu sagen. Der Kommissar unterstellte es ihr nie
wieder, und Nancy konnte spüren, daß er zufrieden war. Es mußte lediglich einmal
ausgesprochen werden. Und so lebten sie, mit einer [620] zartfühlenden Leidenschaft
– wobei ständig Dinge zurückgehalten wurden.
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