Zirkuskind
zwischen
seiner Version des Hinduismus und Dr. Daruwallas Christentum gewesen war.
»Wir haben auch
eine Art Dreifaltigkeit!« hatte der Zwerg ausgerufen.
»Brahma, Shiva,
Vishnu – meinst du die?« hatte der Doktor gefragt.
»Die gesamte Schöpfung
liegt in den Händen von drei Göttern«, hatte Vinod erklärt. »Der erste ist Brahma,
der Gott der Schöpfung – er hat in ganz Indien nur einen Tempel! Der zweite [81] ist
Vishnu, der Gott der Erhaltung oder des Seins. Und der dritte ist Shiva, der Gott
der Veränderung.«
»Veränderung?« hatte
Farrokh gefragt. »Ich dachte, Shiva sei der Zerstörer – der Gott der Vernichtung.«
»Warum behaupten
das alle?« hatte der Zwerg gefragt. »Die gesamte Schöpfung ist ein Kreislauf – da
gibt es kein Ende. Mir gefällt es besser, in Shiva den Gott der Veränderung zu sehen.
Manchmal ist auch der Tod Veränderung.«
»Verstehe«, hatte
Dr. Daruwalla geantwortet. »Das ist eine recht positive Betrachtungsweise.«
»Das ist unsere
Dreiheit«, fuhr der Zwerg fort. »Schöpfung, Erhaltung, Veränderung.«
»Allerdings begreife
ich nicht recht, warum die Götter auch weiblich sein können«, gab Farrokh zu.
»Die Macht der Götter
wird durch die weiblichen Gestalten verkörpert«, erklärte Vinod. »Durga ist die
weibliche Form von Shiva – sie ist die Göttin des Todes und der Zerstörung.«
»Aber du hast doch
gerade gesagt, daß Shiva der Gott der Veränderung ist«, unterbrach ihn der Doktor.
»Seine weibliche
Form, Durga, ist die Göttin des Todes und der Zerstörung«, wiederholte der Zwerg.
»Verstehe«, antwortete
Dr. Daruwalla, weil er Vinod nicht provozieren wollte.
»Durga paßt auf
mich auf, ich bete zu ihr«, fügte Vinod hinzu.
»Die Göttin des
Todes und der Zerstörung paßt auf dich auf?« fragte Farrokh.
»Sie beschützt mich
immer«, antwortete der Zwerg.
»Verstehe«, sagte
Dr. Daruwalla. Daß Vinod glaubte, von der Göttin des Todes und der Zerstörung beschützt
zu werden, klang irgendwie so, als hätte er sich fatalistisch in sein Schicksal
ergeben.
Als Farrokh beim
Zirkus ankam, lag Vinod im Dreck unter [82] der Zuschauertribüne; offenbar war er
zwischen den hölzernen Planken der vierten oder fünften Sitzreihe durchgefallen.
Die Requisiteure hatten nur ein kleines Segment der Zuschauertribüne räumen lassen,
unter der Vinod bewegungslos lag. Doch wie und warum er dort gelandet war, ließ
sich nicht auf Anhieb feststellen. War es bei einer Clownsnummer passiert, bei der
das Publikum mitmachte?
Auf der anderen
Seite der Manege versuchte ein wirres Knäuel von Zwergclowns tapfer, die Aufmerksamkeit
des Publikums auf sich zu lenken. Sie führten die bekannte Nummer mit dem pupsenden
Clown vor, bei der ein Zwerg durch ein Loch in seinem farbenprächtigen Hosenboden
Talkumpuder auf die anderen Zwerge »pupst«. Sie wirkten keineswegs geschwächt oder
in schlechterer Verfassung als sonst, weil sie dem Doktor ein Röhrchen Blut spendiert
hatten, wozu Vinod sie auf schamlose Weise überredet hatte. Ebenso schamlos hatte
Dr. Daruwalla sie belogen – Vinods Ratschlag folgend, hatte er behauptet, das Blut
der Zwerge würde dazu dienen, einem sterbenden Zwerg neue Kraft zu geben. Vinod
hatte dieses Märchen noch dadurch untermauert, daß er seinen Clownkollegen weismachte,
der Doktor hätte ihm bereits Blut abgenommen.
Diesmal hatte der
Zirkusdirektor das Eintreffen des Doktors zum Glück nicht über Lautsprecher verkündet.
Da Vinod unter den Tribünensitzen lag, konnte der größte Teil des Publikums ihn
nicht sehen. Farrokh kniete sich auf den schmutzigen Boden, der mit Abfällen übersät
war: fettige Papiertüten, Limonadeflaschen, Erdnußschalen und ausgespuckte Betelnußstücke.
An der Unterseite der Tribünenbänke sah Farrokh auf den hölzernen Planken die weißen
Streifen der Limonenpaste, mit der paan hergestellt wird; offenbar hatten
sich die Zuschauer die Finger unter den Sitzen abgewischt.
»Ich glaube nicht,
daß es mit mir zu Ende geht«, flüsterte [83] Vinod dem Doktor zu. »Ich glaube, ich
sterbe nicht, sondern ich verändere mich nur.«
»Bleib ganz ruhig
liegen«, sagte Dr. Daruwalla. »Sag mir nur, wo es weh tut.«
»Ich lieg schon
ruhig. Und mir tut nichts weh«, antwortete der Zwerg. »Ich spüre nur einfach mein
Hinterteil nicht.«
Der Zwerg lag, durchaus
passend für einen gläubigen Menschen, stoisch leidend da und hatte seine Dreizackhände
auf der Brust gekreuzt. Später beklagte er sich, daß
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