Zirkuskind
niemand außer einem Verkäufer
– der an einem Riemen um den Hals ein Tablett mit Nüssen und Kichererbsen trug –
es gewagt hatte, sich ihm zu nähern. Vinod hatte dem Verkäufer gesagt, daß sich
sein Hintern taub anfühlte; daher vermutete der Zirkusdirektor, daß sich der Zwerg
den Hals oder das Rückgrat gebrochen hatte. Vinod fand, daß wenigstens jemand mit
ihm hätte reden oder sich seine Lebensgeschichte hätte anhören sollen; jemand hätte
seinen Kopf halten und ihm Wasser einflößen können, bis die Bahrenträger in ihren
schmutzigweißen dhotis kamen, um ihn zu holen.
»Das ist Shiva,
dafür ist er zuständig«, erklärte der Zwerg Dr. Daruwalla. »Das ist Veränderung,
nicht Tod, glaube ich. Wenn Durga die Hand im Spiel hat, einverstanden, dann sterbe
ich. Aber ich glaube, ich verändere mich nur.«
»Das wollen wir
hoffen«, entgegnete Dr. Daruwalla und forderte Vinod auf, seine Finger zu umklammern.
Dann berührte er die Hinterseite seiner Beine.
»Ich spüre sie nur
ein bißchen«, sagte der Zwerg.
»Ich berühre dich
auch nur ein bißchen«, erklärte Farrokh.
»Das bedeutet, daß
ich nicht sterbe«, meinte der Zwerg. »Das sind lediglich die Götter, die mir einen
Rat geben.«
»Und was raten sie
dir?« wollte der Doktor wissen.
»Sie sagen mir,
daß es Zeit ist, den Zirkus zu verlassen«, antwortete Vinod. »Zumindest diesen Zirkus.«
Nach und nach versammelte
sich die ganze Truppe des Great [84] Blue Nile um die beiden. Der Zirkusdirektor,
die Schlangenmädchen und Kautschukfrauen, sogar der Löwenbändiger, der mit seiner
Peitsche spielte. Aber der Doktor ließ nicht zu, daß die Bahrenträger den Zwerg
bewegten, bevor ihm jemand erklärt hatte, wie es zu dem Sturz gekommen war. Da Vinod
der Meinung war, daß nur die anderen Zwerge den Unfall richtig schildern konnten,
mußte die Nummer mit dem pupsenden Clown unterbrochen werden. Inzwischen war sie
ohnehin wie üblich ausgeartet: Der anstößige Zwerg pupste Talkumpuder in die erste
Reihe. Da das Publikum dort zumeist aus Kindern bestand, wurde das nicht als übermäßige
Beleidigung empfunden. Trotzdem zerstreute sich die Menge allmählich. Die Nummer
mit dem pupsenden Clown war nie sehr lange komisch. Und der Great Blue Nile hatte
bei seinen halbwegs erfolgreichen Bemühungen, das Publikum bis zum Eintreffen des
Doktors auf den Plätzen zu halten, sein Repertoire restlos erschöpft.
Jetzt gaben die
Clowns, die sich um Vinod geschart hatten, zu, daß dieser bereits bei anderen Gelegenheiten
verletzt worden war. Einmal war er vom Pferd gefallen; einmal war ihm ein Schimpanse
nachgerannt und hatte ihn gebissen. Einmal, als es im Blue Nile noch eine Bärin
gab, hatte diese Vinod in einen Eimer mit verdünntem Rasierschaum getunkt; das war
zwar Bestandteil der Nummer, aber der Schubs war so hart gewesen, daß der Zwerg
keine Luft mehr bekam und (infolgedessen) das Seifenwasser eingeatmet und geschluckt
hatte. Außerdem hatten Vinods Clownkollegen miterlebt, wie er einmal bei der Nummer
mit den Kricket spielenden Elefanten verletzt worden war. Soweit Dr. Daruwalla verstand,
war bei diesem Kunststück offenbar ein Elefant der Werfer und ein zweiter der Schlagmann.
Der erste hielt den Ball mit dem Rüssel fest und warf ihn dem anderen zu; der Kricketball
war Vinod. Es tat weh, von einem Elefanten geworfen und von einem anderen abgeschlagen
zu werden, auch wenn der Schläger aus Gummi war.
[85] Wie Farrokh später
erfuhr, setzte der Great Royal Circus seine Zwergclowns nie solchen Risiken aus,
aber das hier war eben der Great Blue Nile. Schuld an dem schrecklichen Unfall mit
der Wippe, der dazu geführt hatte, daß Vinod reglos unter den Tribünensitzen lag,
war ebenfalls eine berüchtigte Elefantennummer. Die Nummer mit dem Elefanten auf
der Wippe erforderte nicht soviel Präzision wie die Kricket spielenden Elefanten,
war aber besonders beliebt bei den Kindern, die mit einer Schaukel oder Wippe mehr
anfangen konnten als mit Kricket.
Bei dieser Nummer
mimte Vinod einen griesgrämigen Clown, einen faden Spielverderber, der nicht mit
den anderen Zwergen auf der Wippe schaukeln wollte. Sooft sie das Brett ausbalanciert
hatten, sprang Vinod an einem Ende darauf, und sie purzelten herunter. Dann setzte
er sich mit dem Rücken zu ihnen auf das eine Ende. Nacheinander krabbelten alle
anderen Clowns ans andere Ende des Bretts, bis Vinod hoch in der Luft schwebte;
daraufhin drehte er sich um, rutschte herunter und schubste sie wieder vom
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