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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Brett.
Damit stand für das Publikum fest, daß Vinod sich unsozial verhielt. Die anderen
Zwerge ließen ihn an einem Ende der Wippe sitzen und holten, während er ihnen den
Rücken zuwandte, einen Elefanten.
    Für Erwachsene war
das einzig Interessante an dieser Nummer, daß Elefanten zählen können – zumindest
bis drei. Die Zwerge versuchten, den Elefanten dazu zu bewegen, auf das emporragende
Ende der Wippe zu treten, während Vinod am anderen Ende saß, aber man hatte dem
Elefanten beigebracht, das nicht gleich zu tun, sondern erst beim dritten Mal. Die
beiden ersten Male hob er seinen gewaltigen Fuß über die Wippe, trat aber nicht
darauf; zweimal wedelte er im letzten Augenblick mit den Ohren und wandte sich ab.
So entstand beim Publikum der Eindruck, daß der Elefant nicht wirklich ernst machen
würde. Wenn er dann beim dritten Mal auf die Wippe trat und Vinod in [86]  die Luft
katapultierte, waren die Zuschauer entsprechend überrascht.
    Vorgesehen war,
daß Vinod zu den zusammengerollten Netzen hinaufflog, die nur für die Trapeznummern
heruntergelassen wurden. Dort klammerte er sich dann wie eine Fledermaus an der
Unterseite fest und schrie den anderen Zwergen zu, sie sollten ihn herunterholen.
Natürlich konnten sie ihn nicht ohne die Hilfe des Elefanten erreichen, vor dem
Vinod sichtlich große Angst hatte. Typischer Zirkus-Slapstick, doch es kam darauf
an, daß die Wippe genau auf die aufgerollten Netze gerichtet war. An jenem schicksalhaften
Abend, der Vinods Leben verändern sollte, bemerkte er (während er auf der Wippe
saß), daß sie zum Publikum hinzeigte.
    Schuld daran war
möglicherweise das Kingfisher Lager; so viel Bier auf einmal konnte einen Zwerg
schon aus dem Konzept bringen. Dr. Daruwalla würde nie wieder Zwerge mit Bier bestechen.
Unglücklicherweise zeigte nicht nur die Wippe in die falsche Richtung, sondern Vinod
hatte auch versäumt mitzuzählen, wie oft der Elefant seinen Fuß gehoben hatte, was
ihm sonst immer blind gelungen war; er brauchte nur aufzupassen, wie oft das Publikum
gespannt den Atem anhielt. Natürlich hätte sich Vinod umschauen können, um festzustellen,
wo sich der riesige Fuß befand. Aber er fühlte sich einem gewissen Niveau verpflichtet:
Hätte er sich umgedreht, wäre die Nummer völlig im Eimer gewesen.
    So geschah es, daß
Vinod in die vierte Sitzreihe hinaufgeschleudert wurde. Er erinnerte sich noch,
daß er hoffte, nicht auf irgendwelchen Kindern zu landen, aber er hätte sich keine
Sorgen zu machen brauchen, denn die Zuschauer stoben auseinander, bevor er aufschlug.
Er knallte auf die leeren Holzbänke und fiel durch den Zwischenraum zwischen den
Tribünenbrettern.
    Ein chondrodystropher
Zwerg, das Produkt einer [87]  Spontanmutation, lebt mit dem Schmerz. Die Knie tun
ihm weh, die Ellbogen tun weh – ganz zu schweigen davon, daß sie sich nicht durchstrecken
lassen. Die Knöchel tun ihm weh, und der Rücken tut auch weh – ganz zu schweigen
von der degenerativen Arthritis. Natürlich gibt es schlimmere Arten von Zwergwuchs:
Pseudochondrodystrophe Zwerge leiden an sogenannten windschiefen Deformierungen
– O-Bein auf der einen, X-Bein auf der anderen Seite. Dr. Daruwalla hatte Zwerge
gesehen, die überhaupt nicht gehen konnten. In Anbetracht der Schmerzen, an die
Vinod gewöhnt war, machte es ihm nichts aus, daß sein Hinterteil gefühllos war.
Wahrscheinlich hatte er sich seit Jahren nicht mehr so wohl gefühlt – obwohl er
von einem Elefanten dreizehn Meter hoch in die Luft katapultiert worden und mit
dem Steißbein auf einer Holzplanke gelandet war.
    So kam es, daß der
verletzte Zwerg Dr. Daruwallas Patient wurde. Vinod hatte sich das Steißbein im
oberen Drittel gebrochen und sich die Sehne des äußeren Schließmuskels, die dort
angewachsen ist, gezerrt; kurz und gut, er hatte sich buchstäblich den Arsch gebrochen.
Außerdem hatte er sich ein paar Kreuzbeinbänder gerissen, die an den Seiten des
Steißbeins befestigt sind. Die Gefühllosigkeit seines Hinterteils, die sich bald
legte – so daß die gewohnten Schmerzen wieder zurückkehrten –, rührte möglicherweise
daher, daß auf einen oder mehrere Sakralnerven Druck einwirkte. Vinod sollte sich
vollständig von seinem Sturz erholen, wenn auch langsamer als Deepa. Trotzdem beharrte
er darauf, daß er dauerhaft behindert war. Im Grunde meinte er damit, daß er nicht
mehr die Nerven für solche Kunststücke hatte.
    Künftig müßten die
Flugexperimente der Clowns des Great Blue Nile

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