Zirkuskind
ohne Vinod stattfinden, konstatierte
der Zwerg. Wenn Shiva der Gott der Veränderung war und nicht nur der Zerstörer,
bestand die Veränderung, die er für Vinod vorgesehen hatte, vielleicht in einem
Berufswechsel. Doch der altgediente Clown [88] blieb ein Zwerg, und von daher fehlten
ihm in Farrokhs Augen die nötigen Voraussetzungen, um außerhalb des Zirkus zu arbeiten.
Als die Gastspielsaison
des Great Blue Nile in Bombay zu Ende ging, hatten sich Vinod und seine Frau von
ihren jeweiligen Operationen weitgehend erholt. Während Deepa und ihr zwergwüchsiger
Mann im Krankenhaus lagen, kümmerten sich Dr. Daruwalla und seine Frau um Shivaji;
irgend jemand mußte sich schließlich um das Zwergenkind kümmern, und der Doktor
fühlte sich nach wie vor verantwortlich für das Bier. Es war einige Jahre her, seit
die Daruwallas mit einem Zweijährigen hatten zurechtkommen müssen, und der Umgang
mit einem zweijährigen Zwerg war völlig neu für sie. Für Vinod erwies sich diese
Zeit der Rekonvaleszenz als recht fruchtbar. Der Zwerg war ein zwanghafter Listenschreiber,
und es machte ihm Spaß, Dr. Daruwalla seine Listen zu zeigen. Eine ziemlich lange
Liste enthielt alle Fertigkeiten, die sich Vinod im Zirkus angeeignet hatte, und
auf einer bedauerlich kurzen standen seine sonstigen Fähigkeiten. Auf der kürzeren
Liste las Dr. Daruwalla, daß der Zwerg Auto fahren konnte. Farrokh war überzeugt,
daß Vinod log; er hatte sich ja auch die Lüge ausgedacht, mit der der Doktor die
Zwerge des Great Blue Nile dazu gebracht hatte, sich Blut abnehmen zu lassen.
»Welche Art von
Auto kannst du denn fahren?« fragte der Doktor den genesenden Zwerg. »Wie kommst
du mit den Füßen an die Pedale?«
Auf Vinods kurzer
Liste stand noch ein anderes Wort, auf das er stolz zeigte. Es hieß »Mechanik«.
Farrokh hatte es überlesen und war gleich zum Punkt »Autofahren« gesprungen. Er
ging davon aus, daß mit »Mechanik« das Reparieren von Einrädern und anderen Zirkusgeräten
gemeint war, aber Vinod hatte sich nebenbei zwar ein bißchen mit Einrädern, aber
auch mit Automechanik beschäftigt; er hatte tatsächlich ein [89] Handbedienungsgerät
für ein Auto konstruiert und angebracht. Den Anstoß hatte natürlich eine Zwergnummer
im Great Blue Nile gegeben, bei der zehn Clowns aus einem kleinen Auto kletterten.
Aber zuerst mußte ein Zwerg in der Lage sein, es zu fahren; dieser Zwerg war Vinod
gewesen. Er gab zu, daß die Umrüstung auf Handbetrieb kompliziert gewesen war. (»Viele
Experimente gehen daneben«, meinte Vinod weise.) Das Fahren, so meinte er, sei dann
relativ leicht gewesen.
»Du kannst also
Auto fahren«, sagte Dr. Daruwalla, als spräche er mit sich selbst.
»Ja, schnell und
langsam!« rief Vinod.
»Das Auto braucht
ein Automatikgetriebe«, überlegte Farrokh laut.
»Keine Kupplung,
nur Bremse und Gas«, erklärte der Zwerg.
»Es gibt also zwei
Griffe?« wollte der Doktor wissen.
»Wer braucht denn
mehr als zwei?« fragte der Zwerg.
»Also… wenn du bremst
oder beschleunigst, hast du nur eine Hand am Lenkrad«, folgerte Farrokh.
»Wer braucht denn
beide Hände zum Lenken?« entgegnete Vinod.
»Du kannst also
Auto fahren«, wiederholte Dr. Daruwalla.
Irgendwie war das
schwerer zu glauben als der Elefant auf der Wippe oder die Kricket spielenden Elefanten,
denn der Doktor konnte sich einfach kein anderes Leben für Vinod vorstellen. Er
hatte geglaubt, der Zwerg sei dazu verdammt, für alle Zeiten als Clown im Great
Blue Nile zu bleiben.
»Und Deepa bringe
ich das Autofahren auch bei«, fügte Vinod hinzu.
»Aber Deepa braucht
keine Handbedienung«, meinte Farrokh.
Der Zwerg zuckte
die Achseln. »Im Blue Nile fahren wir natürlich dasselbe Auto«, erläuterte er.
[90] So kam es, daß
Dr. Daruwalla auf der Station in der Klinik für Verkrüppelte Kinder, auf der der
Zwerg lag, die erste Begegnung mit einem zukünftigen Helden am Steuer machte. Er
konnte sich unmöglich vorstellen, daß Vinod mit seiner Limousine fünfzehn Jahre
später zu den legendären Gestalten Bombays zählen würde. Freilich riß sich Vinod
nicht sofort vom Zirkus los; Legenden brauchen ihre Zeit. Freilich riß sich Deepa,
die Frau des Zwergs, vom Zirkus am Ende auch nicht ganz los. Freilich dachte Shivaji,
der Sohn des Zwergs, nicht im Traum daran, sich von ihm loszureißen. Aber all das
ereignete sich wirklich und wahrhaftig nur, weil Dr. Farrokh Daruwalla Zwergenblut
haben wollte.
[91] 3
Der echte Polizist
Mrs.
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