Zirkuskind
würden die Adler kreisen,
prophezeite ihnen der Rikschafahrer.)
Aber der Jesuit
ließ sich nicht von der heiligen Kletterpartie abbringen, so daß sich der Doktor
fragte, ob diese Ochsentour ein Ersatz für die heilige Messe war. Sie brauchten
für den Aufstieg knappe eineinhalb Stunden, hauptsächlich deshalb, weil der Scholastiker
so rasch ging. Die Affen blieben immer in ihrer Nähe und waren zweifellos mit ein
Grund für den Missionar, seine Schritte zu beschleunigen. Seit dem Abenteuer mit
dem Schimpansen hielt Martin bei Affen jeder Art – auch bei kleinen – Distanz. Adler
sahen sie nur einen einzigen. Beim Herunterkommen begegneten sie mehreren Sadhus,
die den heiligen Hügel erklommen. Es war noch so früh, daß nur wenige Getränkestände
geöffnet waren; an einem tranken sie zusammen eine Orangenlimonade. Der Doktor mußte
zugeben, daß die Marmortempel unterhalb des Gipfels recht eindrucksvoll waren, vor
allem der größte und älteste, ein Jaina-Tempel aus dem zwölften Jahrhundert.
Als sie unten ankamen,
keuchten beide, und Dr. Daruwalla gab zu, daß ihm seine Knie höllisch weh taten.
Keine Religion sei zehntausend Stufen wert, behauptete er. Der gelegentliche Anblick
menschlicher Fäkalien hatte ihn deprimiert, und außerdem hatte er sich während der
ganzen Kletterpartie Sorgen gemacht, daß ihr Fahrer sie im Stich lassen könnte und
sie dann notgedrungen zu Fuß in die Stadt zurückkehren müßten. Wenn Farrokh dem
Fahrer vor dem Aufstieg zuviel Trinkgeld gegeben hatte, würde der Ansporn fehlen
dazubleiben; hatte er ihm zuwenig gegeben, wäre er zu gekränkt, um auf sie zu warten.
»Es wäre ein Wunder,
wenn unser Fahrer noch da wäre«, meinte Farrokh. Aber der Fahrer wartete auf sie.
Und als sie auf ihn zugingen, stellten sie fest, daß der treue Mann sogar seine
Rikscha putzte.
[765] »Sie sollten
wirklich etwas sparsamer mit dem Wort ›Wunder‹ umgehen«, meinte der Missionar. Der
Verband um seinen Hals hatte sich bedenklich gelockert, weil Martin bei der Kletterpartie
ins Schwitzen geraten war.
Es war Zeit, die
Kinder aufzuwecken und sie in den Zirkus zu bringen. Es ärgerte Farrokh, daß Martin
Mills bis jetzt gewartet hatte, um das Offensichtliche auszusprechen. Er sollte
es auch nur einmal sagen. »Lieber Gott«, sagte der Jesuit, »ich hoffe nur, daß wir
das Richtige tun.«
[766] 23
Abschied von den Kindern
Nicht Charlton Heston
Viele
Wochen nachdem das ungewöhnliche Quartett das Staatliche Gästehaus in Junagadh verlassen
hatte, lagen der Tollwutimpfstoff und die Ampulle mit dem Immun-Globulin, die Dr.
Daruwalla vergessen hatte, immer noch im Kühlschrank in der Hotelhalle. Eines Abends
fiel dem muslimischen Jungen, der regelmäßig seinen safranfarbenen Joghurt aß, wieder
ein, daß das nicht abgeholte Päckchen die Medizin des Doktors enthielt. Alle hatten
Angst, es anzufassen, bis sich irgend jemand schließlich ein Herz faßte und es wegwarf.
Die einzelne Socke und die einsame linke Sandale hingegen, die der Elefantenjunge
absichtlich zurückgelassen hatte, wurden dem städtischen Krankenhaus gespendet,
obwohl dort wohl kaum jemand etwas damit anfangen konnte. Ganesh wußte, daß ihm
im Zirkus weder die Socke noch die Sandale von Nutzen sein würden, weder bei seiner
Arbeit als Küchengehilfe noch für den Deckenlauf.
Der Junge
war barfuß, als er in das Zelt des Zirkusdirektors humpelte. Es war kurz vor zehn
Uhr am Sonntag morgen, und Mr. und Mrs. Das (und mindestens ein Dutzend Kinderartisten)
saßen im Schneidersitz auf den Teppichen und sahen sich im Fernsehen das Mahabharata an. Trotz ihrer Kletterpartie hatten
der Doktor und der Missionar die Kinder zu früh in den Zirkus gebracht. Kein Mensch
begrüßte sie, was bei Madhu sofort eine gewisse Verlegenheit hervorrief; sie stieß
mit einem größeren Mädchen zusammen, das trotzdem keine Notiz von ihr nahm. Mrs.
Das winkte mit beiden Armen, ohne den Blick vom [767] Fernseher abzuwenden – eine Geste,
die schwer zu deuten war. Wollte sie sie fortscheuchen oder zum Sitzen auffordern?
Der Zirkusdirektor klärte die Sache auf. »Setzen Sie sich, irgendwohin!« befahl
Mr. Das.
Ganesh
und Madhu waren von dem Geschehen auf dem Bildschirm sofort gefesselt; die Bedeutung
des Mahabharata war für sie offensichtlich. Selbst
Bettler kannten das Sonntagmorgenritual, da sie die Sendung häufig in irgendeinem
Schaufenster verfolgten. Leute, die keinen Fernsehapparat hatten, versammelten sich
nicht selten still vor den
Weitere Kostenlose Bücher