Zirkuskind
verschluckt
hätte, wäre ihm heute morgen schlecht.« Ein paar Kinder, die ihre Sonntagspflichten
bereits erledigt hatten, gingen nachsehen, ob Gautam schlecht war; sie bestanden
darauf, daß der Missionar sie begleitete. Da wurde Dr. Daruwalla klar, daß es Zeit
war zu gehen; es würde Madhu nicht guttun, wenn sie länger blieben.
»Ich verabschiede
mich jetzt«, sagte der Doktor zu der Kindprostituierten. »Ich hoffe, daß du mit
deinem neuen Leben glücklich wirst. Bitte paß auf dich auf.«
Als sie
ihre Arme um seinen Hals schlang, zuckte Farrokh [770] zurück, weil er dachte, sie
wollte ihn küssen, doch er irrte sich. Sie wollte ihm nur etwas ins Ohr flüstern.
»Bringen Sie mich nach Hause«, flüsterte Madhu. Aber was war »zu Hause« – was meinte
sie damit? Bevor der Doktor nachfragen konnte, sagte sie es ihm. »Ich möchte zum
Säuremann«, flüsterte sie. So selbstverständlich hatte Madhu die Bezeichnung des
Drehbuchautors für Mr. Garg übernommen. Dr. Daruwalla blieb nichts anderes übrig,
als ihre Arme von seinem Hals zu lösen und ihr einen besorgten Blick zuzuwerfen.
Dann lenkte ein älteres Mädchen Madhu mit einem paillettenbestickten Trikot in leuchtenden
Farben ab – die Vorderseite war rot, die Rückseite orange –, so daß sich Farrokh
davonstehlen konnte.
Chandra
hatte dem Elefantenjungen in einer Ecke des Küchenzelts ein Bett hergerichtet. Dort
würde Ganesh, umgeben von Zwiebel- und Reissäcken, schlafen; eine Wand aus Teedosen
bildete das provisorische Kopfende. Damit der Junge kein Heimweh bekam, hatte der
Koch ihm einen Marathi-Kalender geschenkt, auf dem Parvati mit ihrem elefantenköpfigen
Sohn Ganesh abgebildet war – Lord Ganesha, der »Herr der Ganas«, die Gottheit mit
dem einen Stoßzahn.
Der Abschied
von Ganesh fiel Farrokh schwer. Er bat den Koch um die Erlaubnis, einen kurzen Spaziergang
mit dem elefantenfüßigen Jungen machen zu dürfen. Gemeinsam sahen sie sich die Löwen
und Tiger an, aber bis zur Fleischfütterung war noch lange hin, so daß die Wildkatzen
entweder schliefen oder mißmutig herumlagen. Dann schlenderte der Doktor mit dem
verkrüppelten Jungen an den Wohnzelten entlang. Ein Zwergclown wusch sich in einem
Eimer die Haare, ein anderer rasierte sich. Farrokh war erleichtert, daß keiner
der Clowns auf die Idee kam, Ganeshs hinkenden Gang nachzuahmen, obwohl Vinod den
Jungen vorgewarnt hatte. Vor Mr. und Mrs. Bhagwans Zelt blieben sie stehen. Dort
hatte der Messerwerfer seine Messer ausgelegt – offenbar wollte er sie schleifen –, und unter dem Eingang [771] stand Mrs. Bhagwan und löste ihren langen schwarzen
Zopf, der ihr fast bis zur Taille reichte.
Als die
Artistin den Krüppel sah, rief sie ihn zu sich. Dr. Daruwalla folgte zögernd. Ein
Mensch, der hinkt, braucht zusätzlichen Schutz, erklärte Mrs. Bhagwan dem Elefantenjungen;
deshalb wollte sie ihm ein Shridi-Sai-Baba-Amulett geben, denn Sai Baba sei der
Schutzpatron aller Menschen, die Angst vorm Fallen hatten, erklärte sie. »Jetzt
wird er keine Angst mehr haben«, sagte Mrs. Bhagwan zu Dr. Daruwalla. Sie band dem
Jungen das billige Medaillon um den Hals, ein hauchdünnes Silberplättchen an einer
Rohlederschnur. Während der Doktor sie beobachtete, konnte er sich nur wundern,
wie sie früher, als unverheiratete Frau, den Deckenlauf durchgestanden hatte, während
sie ihre Monatsblutungen hatte – bevor es sich für sie schickte, Tampons zu benutzen.
Jetzt absolvierte sie den Deckenlauf ebenso mechanisch, wie sie sich den Messern
ihres Mannes aussetzte.
Mrs. Bhagwan
war nicht hübsch, hatte aber wunderschönes, glänzendes Haar. Doch Ganesh achtete
nicht auf ihr Haar – er blickte unverwandt in ihr Zelt. Unter dem Zeltdach befand
sich das Übungsgerät für den Deckenlauf, eine leiterähnliche Vorrichtung mit genau
achtzehn Schlaufen. Nicht einmal Mrs. Bhagwan schaffte den Deckenlauf ohne Übung.
Außerdem hing vom Zeltdach ein Gerät für den Zahnhang; es glänzte genauso wie Mrs.
Bhagwans Haare, fast als wäre es noch naß von ihrem Speichel.
Mrs. Bhagwan
folgte dem Blick des Jungen.
»Er hat
die törichte Idee, er könnte den Deckenlauf lernen«, erläuterte Farrokh.
Mrs. Bhagwan
sah Ganesh streng an. »Das ist wirklich eine törichte Idee«, sagte sie zu ihm. Sie
griff mit ihrer schwieligen Hand nach dem Sai-Baba-Medaillon, das sie ihm geschenkt
hatte, und zog sachte daran. Dr. Daruwalla registrierte, daß ihre [772] Hände so groß
waren wie Männerhände und
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