Zirkuskind
offenen Fenstern fremder Wohnungen, in denen der Fernseher
lief. Es spielte keine Rolle, daß sie den Bildschirm nicht sehen konnten – den Schlachtenlärm
und die Gesänge hörten sie trotzdem. Der Doktor nahm an, daß auch minderjährige
Prostituierte wie Madhu diese berühmte Sendung kannten. Nur Martin Mills war verblüfft
über die sichtliche Ehrfurcht aller im Gemeinschaftszelt Versammelten. Ihm war nicht
klar, daß ihre ganze Aufmerksamkeit einem religiösen Epos galt.
»Ist das
ein populäres Musical?« flüsterte er Dr. Daruwalla zu.
»Still.
Das ist das Mahabharata !« sagte Farrokh.
»Das Mahabharata gibt es im Fernsehen?« rief der
Missionar. »Das ganze Ding? Das ist doch sicher zehnmal so lang wie die Bibel!«
»Schsch!«
machte der Doktor. Mrs. Das winkte wieder mit beiden Armen.
Auf dem
Bildschirm sah man Lord Krishna, »den Schwarzen«, eine Verkörperung des Gottes Vishnu.
Die Zirkuskinder rissen ehrfürchtig den Mund auf; Ganesh und Madhu waren wie versteinert.
Mrs. Das schaukelte vor und zurück und summte dabei leise vor sich hin. Selbst der
Zirkusdirektor hing an Krishnas Lippen. Im Hintergrund hörte man Weinen; offenbar
wühlten Lord Krishnas Worte die Menschen auf.
»Wer ist
dieser Kerl?« flüsterte Martin.
[768] »Lord
Krishna«, flüsterte Dr. Daruwalla.
Wieder
gingen Mrs. Das’ Arme hoch, aber der Scholastiker war zu aufgeregt, um den Mund
zu halten. Unmittelbar vor Ende der Sendung flüsterte er dem Doktor noch einmal
ins Ohr; er mußte ihm einfach sagen, daß Lord Krishna ihn an Charlton Heston erinnerte.
Aber der
Sonntagmorgen im Zirkus war nicht nur wegen des Mahabharata etwas Besonderes. Es war der einzige
Morgen in der Woche, an dem die Kinderartisten weder ihre Nummern probten, noch
neue Kunststücke lernen, noch ihr Kraft- und Beweglichkeitstraining absolvieren
mußten. Dafür erledigten sie ihre kleinen Pflichten, kehrten ihre Schlafnischen
aus, räumten auf, und säuberten die winzige Küche im Gemeinschaftszelt. Wenn Pailletten
an ihren Trikots fehlten, holten sie die alten, mit Pailletten gefüllten Teedosen
hervor – in jeder Dose war eine Farbe – und nähten neue Pailletten an ihre Trikots.
Mrs. Das
war nicht unfreundlich, als sie Madhu mit diesen Pflichten vertraut machte, und
auch die anderen Mädchen im Gemeinschaftszelt verhielten sich Madhu gegenüber keineswegs
ablehnend. Ein älteres Mädchen durchstöberte die Koffer mit den Kostümen und zog
mehrere Trikots heraus, von denen sie meinte, sie könnten der Kindprostituierten
passen. Madhu interessierte sich für die Kostüme und wollte sie sogar unbedingt
anprobieren.
Mrs. Das
gestand Dr. Daruwalla, sie sei froh, daß Madhu nicht aus Kerala komme. »Die Mädchen
aus Kerala verlangen zuviel«, meinte die Frau des Zirkusdirektors. »Sie erwarten
die ganze Zeit gutes Essen und Kokosnußöl für ihr Haar.«
Überdies
vertraute Mrs. Das Dr. Daruwalla mit gedämpfter Stimme an, die Mädchen aus Kerala
stünden in dem Ruf, toll im Bett zu sein, dafür aber die ganze Welt zu getreuen
Gewerkschaftern umerziehen zu wollen. Und ein Zirkus sei wahrhaftig nicht der richtige
Ort für einen kommunistischen Aufstand; der [769] Zirkusdirektor pflichtete seiner
Frau bei – nur gut, daß Madhu nicht aus Kerala kam. Das war so ziemlich das einzig
Positive, was man von Mr. und Mrs. Das zu hören bekam – ein gemeinsames Vorurteil
gegenüber Leuten aus einer anderen Region.
Zu Ganesh
waren die Zirkuskinder nicht lieblos, sie ignorierten ihn nur einfach. Für sie war
Martin Mills mit seinen Verbänden viel interessanter. Sie hatten alle von der Attacke
des Schimpansen gehört – viele von ihnen hatten sie mit eigenen Augen gesehen. Aufgeregt
betrachteten sie die kunstvoll verbundenen Wunden, waren jedoch gleichzeitig enttäuscht,
daß sich Dr. Daruwalla weigerte, das Ohr auszupacken, weil sie zu gern gesehen hätten,
was fehlte.
»Wieviel
denn? Soviel?« fragte eines der Kinder den Missionar.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
Die Unterhaltung
mündete in Spekulationen darüber, ob Gautam das Stück Ohrläppchen verschluckt hatte
oder nicht. Dr. Daruwalla wunderte sich, daß bisher offenbar keinem der Kinder Martins
Ähnlichkeit mit Inspector Dhar aufgefallen war, obwohl Hindi-Filme ein fester Bestandteil
ihrer Welt waren. Ihr Interesse galt einzig und allein dem fehlenden Stück von Martins
Ohrläppchen.
»Schimpansen
sind keine Fleischfresser«, sagte ein älterer Junge. »Wenn Gautam es
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