Zirkuskind
in einem steten
Rinnsal zwischen den Brüsten hinab, und Dhar blutete leicht aus einem Kratzer am
Handgelenk; seine weiße Manschette war voller kleiner Blutflecken. Er hatte sich
an einer Paillette geritzt, als er Muriel so fest am Handgelenk packte. Er achtete
nur flüchtig auf den Kratzer, aber Muriel nahm sein Handgelenk in beide Hände und
legte die Lippen auf den Schnitt. Und so, mit ihrem Mund auf seinem Handgelenk,
tanzten sie weiter. Mr. Sethna hatte so etwas bisher nur im Film gesehen. Er durchschaute
nicht, daß er jetzt genau das sah: ein Stück von Farrokh Daruwalla, einen Film mit
Inspector Dhar als Hauptdarsteller.
Als Muriel
den Duckworth Club verließ, machte sie ein Mordsgetue um ihren Aufbruch. Mit dem
Umhängetuch um die Schultern tanzte sie noch einen letzten Tanz (wieder einen langsamen).
In der Eingangshalle stürzte sie fast ein ganzes Glas Champagner hinunter, und als
Vinod die Schönheitstänzerin dann zu seinem Ambassador geleitete, stützte sie sich
auf seinen Kopf.
[816] »Ein
Mordswirbel, wie er zu einer Hure paßt«, meinte Mr. Dogar. »Wahrscheinlich fährt
sie jetzt ins Bordell zurück.«
Doch Rahul
warf nur einen Blick auf die Uhr. Die zweite Mrs. Dogar kannte sich im Nachtleben
von Bombay gut aus; sie wußte, daß es bald Zeit für die erste Show im Eros Palace
war. Und falls Dhars Flittchen im Wetness Cabaret arbeitete – dort begann die erste
Show fünfzehn Minuten später.
Als Dhar
die Tochter der Sorabjees zum Tanzen aufforderte, machte sich erneut eine gewisse
Spannung im großen Speisesaal und im Ladies’ Garden bemerkbar. Obwohl Nancy dem
Geschehen den Rücken zuwandte, spürte sie genau, daß etwas geschehen war, was nicht
im Drehbuch stand.
»Er hat
jemand anderen zum Tanzen aufgefordert, habe ich recht?« sagte sie. Ihr Gesicht
und ihr Nacken waren gerötet.
»Wer ist
dieses junge Mädchen. Sie war nicht eingeplant!« sagte Detective Patel.
»Vertrauen
Sie ihm, er ist gut im Improvisieren«, sagte der Drehbuchautor. »Er weiß immer genau,
wer er ist und welche Rolle er zu spielen hat. Er weiß, was er tut.«
Nancy
preßte eine Perle ihrer Halskette so fest zwischen Daumen und Zeigefinger, daß beide
Finger weiß wurden. »Und ob er das weiß«, sagte sie. Julia drehte sich um, konnte
aber nicht in den Ballsaal sehen – sie sah nur den unverhohlenen Haß in Mrs. Dogars
Gesicht.
»Das ist
die kleine Amy Sorabjee, frisch zurück von der Uni«, erklärte Dr. Daruwalla seiner
Frau.
»Sie ist
doch noch ein Teenager!« rief Julia.
»Ich glaube,
sie ist schon ein bißchen älter«, entgegnete der echte Polizist.
»Ein genialer
Schachzug!« meinte der Drehbuchautor. »Mrs. Dogar weiß nicht, was sie davon halten
soll!«
»Ich kann’s
ihr nachfühlen«, sagte Nancy zu ihm.
»Es wird
schon gutgehen, Herzchen«, versicherte der [817] Kommissar seiner Frau. Als er ihre
Hand nehmen wollte, zog sie sie weg.
»Komme
ich als nächste dran?« fragte Nancy. »Bin ich jetzt an der Reihe?«
Fast alle
Gesichter im Speisesaal waren auf die Tanzfläche gerichtet. Die Leute beobachteten
den nicht zu bremsenden, schwitzenden Filmstar mit seinen massigen Schultern und
seinem Bierbauch. Er wirbelte die kleine Amy Sorabjee übers Parkett, als wäre sie
so federleicht wie ihr Kleid.
Obwohl
die Sorabjees und die Daruwallas alte Freunde waren, hatten sich Dr. und Mrs. Sorabjee
über Dhars spontane Aufforderung gewundert – und darüber, daß Amy sie angenommen
hatte. Sie war ein leichtfertiges Mädchen Mitte Zwanzig, eine ehemalige Studentin,
die nicht nur nach Hause gekommen war, weil sie Semesterferien hatte, sondern weil
ihre Eltern sie endgültig zurückbeordert hatten. Freilich flirtete Dhar nicht mit
ihr, sondern benahm sich wie ein richtiger Gentleman – vermutlich außerordentlich
charmant –, aber die junge Dame schien entzückt. Die Art, wie die beiden tanzten,
unterschied sich grundlegend von Dhars Auftritt mit Muriel. In diesem Fall bildeten
die sicheren, geschmeidigen Bewegungen des älteren Mannes ein recht erfreuliches
Gegengewicht zu der Ausgelassenheit des jungen Mädchens.
»Jetzt
verführt er schon Kinder!« verkündete Mr. Dogar seiner Frau. »Er wird der Reihe
nach alle Frauen durchtanzen. Ich bin sicher, daß er dich auch noch auffordern wird,
Promila!«
Mrs. Dogar
war sichtlich erregt. Sie entschuldigte sich und ging auf die Toilette, wo sie daran
erinnert wurde, wie sehr sie diesen Aspekt des Frauseins verabscheute – das Anstehen
zum Pinkeln.
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